09.10.2015

Leben auf dem Pulverfass

Es wurden Süssigkeiten gereicht, und livrierte Kellner boten diskret Kaffee und Digestifs an. Beim Dinner im Restaurant des Fünfsternhotels in Pontresina war ich am selben Tisch, aber in einiger Distanz zum erfolgreichsten Velofahrer aller Zeiten platziert worden. Und dann ergab sich die Möglichkeit, auf die ich den ganzen Abend über gewartet hatte. Schnell setzte ich mich auf den eben frei gewordenen Stuhl neben Lance Armstrong und begann eine lockere Konversation, um mich langsam an die Frage heranzuarbeiten, die mich seit langer Zeit beschäftigte.
von Roger Schawinski

Es wurden Süssigkeiten gereicht, und livrierte Kellner boten diskret Kaffee und Digestifs an. Beim Dinner im Restaurant des Fünfsternhotels in Pontresina war ich am selben Tisch, aber in einiger Distanz zum erfolgreichsten Velofahrer aller Zeiten platziert worden. Und dann ergab sich die Möglichkeit, auf die ich den ganzen Abend über gewartet hatte. Schnell setzte ich mich auf den eben frei gewordenen Stuhl neben Lance Armstrong und begann eine lockere Konversation, um mich langsam an die Frage heranzuarbeiten, die mich seit langer Zeit beschäftigte. Als wir uns etwas nähergekommen waren, schien der Augenblick richtig. «Was war dein grösster Fehler, Lance?», fragte ich ihn. Er blickte mir direkt ins Gesicht und sagte: «Kein Zweifel, wenn ich nicht zurückgekommen wäre, wäre ich immer noch der grösste Velofahrer der Geschichte. Ich hätte immer noch meine Titel als siebenfacher Gewinner der Tour de France. Stattdessen gelte ich als schlimmster Betrüger aller Zeiten. Das war mein grösster Fehler.»

Und wirklich: Nicht seine Lügen über all die Jahre, nicht seine lange Dopingkarriere bereut er. Diese betrachtet er zwar als Fehler, aber als eher lässliche, weil ja alle anderen Spitzenfahrer ebenso gefrevelt hätten, wie er mir sagte. Und dass man ihn nie erwischt habe, weil er zu clever und auch zu ruchlos gewesen sei, macht ihn eher stolz. Und so war er mit der zusätzlichen Aura des heldenhaften Siegers über einen grässlichen Krebs zu einem weltweit unvergleichlichen Idol geworden, einer Leuchtfigur, die mit seiner Stiftung zudem viele Millionen Dollar für Krebskranke gesammelt hatte. 

Doch dann, nach seinem Rücktritt, ist er in den Rennzirkus zurückgekehrt, weil er gelangweilt gewesen sei, wie er mir erzählte, weil er das Gefühl gehabt habe, die falschen Leute mit zu wenig Fähigkeiten würden die grossen Rennen gewinnen. Denen würde er es zeigen, womöglich selbst ohne Hilfe chemischer Substanzen. Doch dann fiel alles zusammen. Die Aussagen ehemaliger Freunde brachen ihm das Genick, weil die Beweislast schlicht zu erdrückend geworden war. Und deshalb kämpft er jetzt sogar um sein wirtschaftliches Überleben. Seine früheren Sponsoren von US Postal fordern die vielen Millionen zurück, da sie sich betrogen fühlen und als staatliche Organisation von Gesetzes wegen zu einem solchen Vorgehen gezwungen sind. Und seine ehemaligen engsten Rennkollegen und Freunde wie Floyd Landis und Tyler Hamilton werden als Whistleblower einen beträchtlichen Teil der von ihm zu bezahlenden Schadensumme einsacken, so wie es in den USA eben üblich ist.

Die Geschichte von Lance Armstrong erinnert mich an eine andere. Auch Sepp Blatter stand während Jahrzehnten im Zentrum eines auf Lügen aufgebauten korrupten Systems. Auch er kannte die Gefahren, die drohten, falls die schmutzige Wäsche an die Oberfläche schwappen würde. Trotzdem liess er sich 2011 und 2015 als Präsident der Fifa wiederwählen, weil er wie Lance Armstrong glaubte, dass das, was so lange gut gegangen sei, auch in Zukunft gut gehen würde, dass er alles wie immer unter Kontrolle habe. Und weil er wie Lance nicht auf das Adrenalin verzichten wollte, das nur dann einfährt, wenn man im Zentrum der weltweiten Blitzlichter verbleibt. Und so hat auch er seinen gloriosen Abgang total vermasselt. 

Irgendwann verabschiedete sich Lance an jenem Abend. Er schien nicht gebrochen, eher wehmütig. Beinahe war ihm etwas gelungen, das ohne Beispiel war. Und dann ist er auf unsinnigste Weise gefallen; wie er mir erklärte, habe er sich in einer Weise dumm verhalten, wie er es sich nachträglich nicht erklären könne.

Loslassen ist wohl eines der schwierigsten Dinge, wenn man während Jahren im Rausch des Erfolgs gelebt hat und sich ein Leben im Schatten oder sogar in der Bedeutungslosigkeit nicht vorstellen will. Dies gilt für sehr viele Menschen gleichermassen. Aber dass selbst Personen sich so verhalten, die sich eigentlich glücklich schätzen müssten, dass sie eine unglaublich lange Zeit auf dem Pulverfass schadlos überstanden haben, dies verblüfft doch. 

 

 



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