10.10.2014

Von Rattenfängern verführte Trottel

"Wie kann man den Crashkurs der SVP stoppen?", fragt die Schweiz-Ausgabe von "Die Zeit". Im aktuellen Blatt geben zumindest der Geschichtsprofessor Thomas Maissen und der Politikforscher Michael Hermann gescheite Antworten: Sie raten, mit der SVP um ihre Begriffe und ihre Bilder zu kämpfen. Das ist eine Debatte, toll!
von Markus Schär

"Wie kann man den Crashkurs der SVP stoppen?", fragt die Schweiz-Ausgabe von "Die Zeit" (vgl. persoenlich.com). Im aktuellen Blatt geben zumindest der Geschichtsprofessor Thomas Maissen und der Politikforscher Michael Hermann gescheite Antworten: Sie raten, mit der SVP um ihre Begriffe und ihre Bilder zu kämpfen. Das ist eine Debatte, toll!

Wenig überzeugend ist dagegen die Philosophin Katja Gentinetta. Sie begnügt sich damit, ÜBER die SVP zu sprechen (um das euphemistisch auszudrücken) statt MIT ihr. Hier ein Beispiel: "Statt Konsens und Kompromiss beherrschen Radau und Radikalisierung die Politik; Demagogie statt Demokratie lautet das Rezept." Gentinettas Intervention gleicht in Argumenten und Tonalität bis hin zur Sprachregelung anderen, die ich in den letzten Wochen erlebt habe, und zwar so oft, dass ich mittlerweile einen abgesprochenen, wenn auch nicht durchdachten Masterplan dahinter vermute.

Hier nur einige persönliche Beispiele:

Der Club Helvétique veröffentlicht vor dem 1. August im "Magazin" ein ausführliches Manifest, das die 50,3-Prozent-Mehrheit vom 9. Februar als "Scheuklappen-Schweiz" verhöhnt. ETH-Professor Dieter Imboden als Mitunterzeichner (das Manifest stammt offenbar von den Alt-Nationalrätinnen Hilde Fässler (SP) und Cécile Bühlmann (GP), die meisten der prominenten Unterzeichner trugen nichts dazu bei) beklagt sich eine Woche später auf der Webseite Journal 21 über das Ausbleiben von Reaktionen. Ich arbeite gerade für die "Weltwoche" an einer langen Replik auf das Manifest und künde sie in einem Kommentar zum Artikel an. Das in keiner Hinsicht anstössige Kommentärchen wird nicht freigegeben, verantwortlich ist der ehemalige Tagesschau-Chef Heiner Hug. Ein persönliches Mail an Dieter Imboden, mit dem ich vor Jahren in einer Jury sass, bleibt ohne Antwort. Und auf das Angebot einer Stellungnahme zu meinem Artikel – so an Mitunterzeichner Kurt Imhof, mit dem ich mich auf seinen Anstoss hin schon an zwei Mittagessen gut unterhielt – geht niemand ein.

Der Verlag NZZ Libro kündigt im Sommer für Oktober das Buch "Wo liegt die Schweiz?" des ehemaligen EDA-Staatssekretärs und IKRK-Präsidenten Jakob Kellenberger an, der unter anderem für die Schweiz die Bilateralen Abkommen verhandelt hat. Ich bemühe mich um ein Gespräch mit dem interessanten Zeitzeugen, erfahre aber von NZZ Libro, Kellenberger habe sich alle Vorabdrucke verbeten und sei nicht einmal für den Verlag erreichbar. Vor zwei Wochen kündigt die Schweizer Ausgabe von "Die Zeit" ein grosses Gespräch mit Kellenberger an. Ich frage nochmals beim Verlag nach und erfahre, Kellenberger habe nur für "Die Zeit" eine Ausnahme gemacht, er stehe für Interviews nicht zur Verfügung. Im Gespräch sagt der Diplomat, sein Motiv zum Schreiben des Buches sei gewesen, "einfach gewisse Dinge zu sagen, die andere nicht mehr sagen können oder nicht mehr sagen zu können glauben".  Titel des Interviews: "Mehr Ehrgeiz, bitte!"

In der "Sternstunde Philosophie" vom 14. September sinnieren auf SRF die Journalistin Joëlle Kuntz, der Philosophie-Professor Georg Kohler und die Moderatorin Katja Gentinetta über Nationalismus und Populismus nach dem 9. Februar. Die beiden Gäste stimmen einander durchwegs zu, der Zuschauer fragt sich, weshalb es überhaupt zwei brauchte; die Moderatorin, die bei Kohler doktoriert und das Buch "Die Schweiz – oder die Kunst der Abhängigkeit" von Kuntz überfreundlich rezensiert hat, gibt nur Stichworte. Wer am 9. Februar – notabene mit der Mehrheit – Ja stimmte, muss sich eine Stunde lang als fehlgeleiteter Trottel hinstellen lassen: "Nun treten plötzlich Demagogen auf mit so einfachen Dingen wie, dass die Erde flach ist. Schaut sie nur an: Sie ist flach. Die Leute sind ein wenig erstaunt. Aber viele haben keine Zeit, sich mit Politik zu befassen, Zeitungen zu lesen, detailliert alle Vorstösse zu studieren, die gemacht werden – und sie glauben ihnen" (Joëlle Kuntz). Als Stimmbürger, der sich professionell wohl mehr mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat als die beiden Denker zusammen, fühle ich mich als von Rattenfängern verführter Trottel verunglimpft. Das muss ich mir bei aller Freiheit der Programmmacher von einem zwangsgebührenfinanzierten Sender nicht bieten lassen, wie hoffentlich der Ombudsmann bestätigen wird.

Bei einem von der staatlich finanzierten Agentur Euresearch veranstalteten, ausdrücklich als "keine politische oder fachliche Tagung" angekündigten Anlass für junge Wissenschaftler und Unternehmer, tritt der 79-jährige Multimilliardär Hansjörg Wyss auf, der sich noch nie zur Schweizer Politik geäussert hat, und hält eine politische Brandrede, in der er die Volksmehrheit verunglimpft, weitgehend mit derselben Sprachregelung (gemäss Masterplan von wem?). Danach entzieht er sich wieder der Debatte. Zu Recht, denn im Buch seiner Schwester Hedi Wyss gesteht er: "Die Schweiz ist mir zu kompliziert."

Also, Kollegen von "Aargauer Zeitung" bis zu "Die Zeit": Ja, dieses Land braucht dringend Debatten, meinetwegen auch über die seit zwanzig Jahren drängende Frage, wie sich die SVP stoppen lässt. Aber zu einer Debatte – man muss es offenbar in Erinnerung rufen – gehören zwei Seiten. Dass die eine Seite die andere beleidigt und verhöhnt, sich aber nachher wieder im Bewusstsein der moralischen und intellektuellen Überlegenheit in den Elfenbeinturm verkriecht, genügt dafür nicht.

Markus Schär ist Bundeshaus-Redaktor der "Weltwoche"

 

 



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