10.02.2015

"Wir sind das Volk": verquere Onlinedemokratie

Als kürzlicher Adressat eines respektablen Blogger-Shitstorms habe ich mich erstmals mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Ich habe mich gefragt, ob sich in den Onlineforen ein Abbild unserer Gesellschaft finden lässt. Bilden die abgedruckten Kommentare die Meinung der Bevölkerung zumindest annähernd ab? Sind sie also ein ernst zu nehmender Gradmesser für die Stimmung zu einem konkreten Thema?
von Roger Schawinski

 

Als kürzlicher Adressat eines respektablen Blogger-Shitstorms habe ich mich erstmals mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Ich habe mich gefragt, ob sich in den Onlineforen ein Abbild unserer Gesellschaft finden lässt. Bilden die abgedruckten Kommentare die Meinung der Bevölkerung zumindest annähernd ab? Sind sie also ein ernst zu nehmender Gradmesser für die Stimmung zu einem konkreten Thema?

Die Antwort: nein, nein und noch einmal nein, vor allem wenn es um politisch brisante Fragen geht. Beweis: Bei 20 Minuten Online sprachen sich im Vorfeld der Ecopop-Abstimmung satte 90 Prozent für die Vorlage aus. Das Resultat an der Urne kennen wir: ganze 28 Prozent Ja-Stimmen! Eine grössere Diskrepanz ist kaum vorstellbar. Die allgemeine Analyse der Kommentare bei diesem bedeutenden Onlineportal zeigt, dass rechte und ultrarechte Einträge immer überwiegen. Sie kapern sich von Beginn weg die Lufthoheit, sodass sich abweichende Meinungen kaum mehr in dieses Umfeld begeben wollen, da sie dort sofort niedergevotet oder schlechtgemacht werden. Das heisst, dass die Blogosphäre im politisch aufgeheizten Klima der Schweiz zu einer Domäne der Rechtspopulisten geworden ist, in der sie sich ohne Rücksicht auf Anstand oder Orthografie austoben können.

Haben diese Kommentare trotzdem eine Wirkung, sogar bei Entscheidungsträgern? Meine jüngste Erfahrung deutet darauf hin. So schlug mir nach der explosiven TV-Sen- dung SoBli-Chefin Christine Maier ein «Versöhnungsgespräch» mit Andreas Thiel auf ihrer Redaktion vor, das ich natürlich kategorisch ablehnte, denn das wäre bloss schale Sensationshascherei gewesen. Also musste sich die SoBli-Redaktion etwas anderes für die nächste Ausgabe einfallen lassen, um die Geschichte weiter zu bewirtschaften, und forderte auf nicht weniger als den drei ersten Seiten meinen Rücktritt. Das Ganze wurde – inklusive entsprechenden Karikaturen – als reiner Gockelkampf dargestellt, ohne dass das eigentliche Thema ernsthaft berührt worden wäre. In ihrem Editorial meinte dabei Christine Maier (49), der «alte Gockel» solle abtreten und – Zitat – «einer jungen Henne» Platz machen. Da erinnerte ich mich, dass sich mir Frau Maier schon vor meiner ersten Sendung und später immer wieder als Ersatzmoderatorin angeboten hatte, falls ich ein- mal wegen Krankheit ausfallen sollte – einen Vorschlag, den ich pflichtgetreu an den Chef Information weitergeleitet hatte ...

Aber auch bei sogenannt seriösen Zeitungen brannten bei dieser aufgeputschten Geschichte die Sicherungen durch. In der NZZ am Sonntag verbreitete Francesco Benini, und dies unter Hinweis auf einen einzigen anonymen Informanten, eine haarstäubende Verschwörungstheorie (Achtung: Qualitätsjournalismus!) und doppelte in einem Kommentar nach, in dem er deshalb die Absetzung dieser «Freakshow» forderte. Auch hier gibt es eine Backstory. Kurz nach dem Start meiner Sendung vor über drei Jahren forderte Benini von mir die Vorlage der Einschaltquoten. Da die sehr ordentlich waren, mailte er mir zurück: «Okay, okay, dann muss ich mit der Verrissstory noch etwas zuwarten.» Mit den vielen Stimmen aus dem Volk im Rücken sah er nun seine Stunde gekommen.

In den USA haben einige Medien die Kommentarrubriken zugesperrt, die ihrer Meinung nach völlig ausser Kontrolle geraten sind. Anders bei uns. Vor allem reine Onlinemedien holen sich auf diese Weise die aus kommerziellen Gründen so wichtigen Klickzahlen und befeuern heisse Storys auf Teufel komm raus. Der Verlust an journalistischer Glaubwürdigkeit wird dabei locker als Kollateralschaden hingenommen. Und so breiten sich die Online-Pegidas weiter mit dem Anspruch aus, dass sie die Mehrheitsmeinung vertreten. Das kann noch böse enden.

 

 



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