26.11.2004

LEINEMANN JÜRGEN, Buchautor, Leiter “Spiegel”-Büro Berlin/November 2004

Wenn die Macht den Menschen übernimmt: Macht kann verführen und süchtig machen. Viele Politiker und Wirtschaftsführer erliegen dieser Verführung. Aber Macht verändert den Menschen. Alle wollten einst die Welt verändern, doch dann ist das Amt plötzlich nur noch Selbstbestätigung, und mit den Privilegien spielt man anderen Bedeutung vor. “persönlich” hat den bekannten deutschen Buchautor und Leiter des “Spiegel”-Büros Berlin Jürgen Leinemann befragt.

Wie verändert sich ein Mensch, wenn er quasi von der Bedeutungslosigkeit in eine Machtposition hineinwächst?

“Macht verführt und löst eine Art Rauscheffekt aus – das wussten schon die alten Griechen. Dass man daran festhalten will und dass man über andere bestimmen und seine eigenen Vorstellungen durchsetzen kann, das ist etwas, was Menschen beflügelt. Mit der Macht verändert sich auch die Umwelt – selbst in demokratischen Ämtern. Von einem Augenblick zum anderen werden Leute, die in einer Machtposition sind, anders behandelt. Sie werden anders angesprochen, man nähert sich ihnen in einer anderen Haltung. Die Journalisten verändern ihre Attitüde. Menschen in Machtpositionen kriegen das natürlich mit, und dadurch ändern sich auch ihr Umgang und die Kommunikation mit denen, die sie umgeben.”

Macht die Funktion die Aura aus?

“In unserer Mediengesellschaft hängt Macht in erster Linie vom öffentlichen Bild ab, das einer abgibt. Selber zweifelt man bisweilen sehr an sich, und da muss man sich die Bestätigung von aussen holen. Dafür sind natürlich öffentliche Auftritte ganz besonders wichtig. Früher waren es Statussymbole und Rituale, die auch heute noch da sind, obwohl sie in Demokratien nie eine so bedeutende Rolle gespielt haben wie etwa in totalitären Systemen. Trotzdem tragen sie auch heute noch zum Machtbild von Politikern oder Wirtschaftskapitänen bei; ich denke da an Dinge wie Dienstwagen, Leibwächter, Gesprächspartner, Termine oder Reisen.”

Was unterscheidet die Machtposition eines Politikers von jener eines Wirtschaftsführers?

“Ein Politiker hat in der Demokratie viel weniger Macht als ein Wirtschaftsführer. Er kann viel weniger anordnen und mit konkreten Folgen entscheiden, als ein Wirtschaftsführer dies in seinem Bereich tun kann. Die Macht der Politiker beschränkt sich zunehmend darauf, dass sie eine Bedeutungsmacht haben. Sie sind diejenigen, die sich hinstellen und den Leuten erklären können, wie man gewisse Dinge zu sehen hat. In Deutschland hat das insbesondere Hans-Dietrich Genscher gepflegt, indem er häufig die Worte ‘So dürfen Sie das nicht sehen!’ gebrauchte. Politiker bestimmen die Kriterien, nach denen man eine Sache sehen muss. Wenn man diese Kriterien übernimmt und akzeptiert, dann kommt man auch zu den gleichen Ergebnissen. So können Politiker zum Beispiel versuchen, möglichst viele Leute davon zu überzeugen, dass die Arbeitslosigkeit wirklich nur an einer internationalen Finanzverschwörung liegt oder an irgendwelchen finsteren Mächten, jedenfalls nicht an ihnen. Das sind Versuche, das Dilemma zu umgehen, dass man in Wahrheit selbst ganz wenig ändern kann. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass es einen grossen Tempounterschied gibt zwischen der politischen Realität und jener der Medien. Die Medien und die Konsumenten verlangen nach schnellen Taten und Lösungen. Entscheidungen und Handlungsabläufe in der Politik jedoch dauern lange. Politiker müssen Mehrheiten organisieren, sie müssen Kompromisse machen und Entscheidungen durchsetzen.”



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