05.11.2004

VON MATT PETER, Professor/Oktober 2004

Mythenbildung: Der Aufstand, die Revolution, die Intrige, die Konspiration, das Böse: Die Systematik in den Entwicklungen von Geschichte, Politik und Wirtschaft ist sich immer ähnlich. Kolumnist Roger de Weck interviewt Professor Peter von Matt zum Thema am Beispiel von Schillers Wilhelm Tell, dem Schweizer Mythos. Doch was ist ein Mythos? Wie entsteht ein Mythos? Markenartikler können von Schiller lernen, denn was ist eine Marke anderes als – ein Mythos?

Unser Gespräch findet auf dem Schiff Schiller statt. Die erste Frage an einen Literaturexperten drängt sich auf: Wen bevorzugen Sie: Goethe oder Schiller?

“Fragen darf man immer. Man darf nur keine bestimmte Antwort erwarten. Wenn man sich berufsmässig mit Literatur beschäftigt, stösst man immer wieder auf die beiden. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass einem in bestimmten Zeiten der eine näher steht, in anderen wieder der andere. Aber das führt nicht zu einer unterschiedlichen Einstufung.”

1797, auf seiner dritten Schweizer Reise, lernt Goethe die Tell-Sage kennen. Statt sie aber selber umzusetzen, bietet er sie seinem Freund und ehemaligen Rivalen Schiller an. Warum?

“Das ist nicht ganz exakt. Goethe wollte ursprünglich ein Versepos über Wilhelm Tell schreiben. Er hatte die Eigenschaft, dass er seine Texte immer im Kopf erarbeitete. Sein Problem war dann, dass er anschliessend keine Lust mehr hatte, sie aufzuschreiben. Wir wissen von einer Reihe von Werken, die grandios geworden wären, wenn Goethe sie nur niedergeschrieben hätte. Fertig waren sie bereits. Auch den Tell hatte er in seinem Kopf ausgearbeitet. Als er nach Weimar zurückkehrte, erzählte er Schiller in seiner Begeisterung den ganzen Plan. Es gibt einen Brief von Schiller an Goethe, in welchem er diesen auffordert, das Epos über den Tell unbedingt zu schreiben. Doch Goethe hatte bereits die Lust verloren. Möglicherweise ein Glücksfall – ansonsten hätten wir das sensationelle Schiller-Stück nicht, wenn es mich auch sehr reizen würde, einen Blick in den verlorenen Tell von Goethe zu werfen. Aber von der Form her war das Versepos eigentlich eine etwas überlebte Gattung, während das grosse, spektakuläre Schauspiel – beim Schillerschen Theater handelte es sich um einen Vorläufer des Films – dem Zeitgeist entsprach.”

Gibt es eigentlich Indizien, ob Goethe am Ende nicht enttäuscht war, dass er den Tell nicht selbst geschrieben hat, und gibt es von Schiller Zeichen der Dankbarkeit, dass ihm Goethe diesen grossartigen Stoff überlassen hat?

“Es handelte sich um einen langsamen Prozess. Während sich der eine von seinem Projekt entfernte, rutschte der andere zögernd hinein. Der Tell-Stoff war auch wie für Schiller geschaffen, weil er dessen Urthemen wie den Aufstand, die Revolution, die Intrige, die Konspiration und auch das Böse in der Person Gesslers enthielt. Wir wissen, dass Goethe aus Gessler einen gemütlichen und brummigen Tyrann gemacht hätte. Goethe hatte nie etwas für das Böse übrig. Und er hat an Schillers Stück kräftig mitgearbeitet.”



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