12.06.2017

Zukunft von TV

Zuschauer werden zu Programm-Planern

Junge schauen fast nicht mehr linear Fernsehen. Wie kann die Branche darauf reagieren? «Zum Beispiel mit kurzen Facebook-Videos», sagte SRF-«Tagesschau»-Chef Urs Leuthard. Er trat am IAA-Trendbrunch in Zürich auf, zusammen mit Arno Heinisch vom Web-TV-Sender Rocket Beans.
Zukunft von TV: Zuschauer werden zu Programm-Planern
Das Smartphone hat den Newskonsum auf den Kopf gestellt. «Tagesschau»-Chef Urs Leuthard zeigte auf, mit welchen Strategien SRF gegen die Abwanderung vom linearen Fernsehen vorgeht. (Bilder: IAA/David Biedert)
von Christian Beck

In den Stuben spielt sich bei den älteren Generationen jeden Abend dasselbe Schauspiel ab: Spätestens um 19.30 Uhr sitzen Herr und Frau Schweizer im Fernsehsessel und konsumieren, was serviert wird. Junge hingegen nutzen das lineare Fernsehen mit dem festgelegtem Programmplan immer seltener. Vor allem die Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen wird selbst zu Programm-Planern, dies dank den Streamingdiensten. Die Fernseh- und Werbebranche ist also gefordert und muss umdenken.

Dem Thema «Web-TV verändert das Spielfeld» widmete sich der Trendbrunch 2017 im Anschluss an die GV vom Swiss Chapter der International Advertising Association IAA. Hoch über Zürich – im Sorell Hotel Zürichberg – befassten sich am Freitag Mitglieder und Gäste mit dem Trend der selbstbestimmten Unterhaltung, welche die Medienhäuser, Agenturen und Werbeauftraggeber gleichermassen beschäftigt.

News jederzeit und überall

«Bei wem ist das Fernsehen die wichtigste Nachrichtenquelle?», wollte Urs Leuthard, Redaktionsleiter der SRF-«Tagesschau», gleich zu Beginn seines Referates von den rund 100 Anwesenden wissen. Praktisch niemand streckte auf. Die meisten Hände waren oben, als Leuthard das Web als Option nannte. Dieses Resultat decke sich mit repräsentativen Umfragen. Das Smartphone habe beim Newskonsum die Welt auf den Kopf gestellt. «Die Medien waren sich lange gewohnt, dass die Konsumenten zu ihnen kamen. Sei es als Zeitungsabonnent, Radiohörer und Fernsehzuschauer», so Leuthard. «Heute wollen alle News konsumieren, wann und wo sie wollen.»

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Den meisten fehle heute die Zeit, um sich in die Nachrichten zu vertiefen, sagte Leuthard. Bei den SRF-Videos, wie sie auf Social Media angeboten werden, entscheide der User innerhalb von fünf Sekunden, ob er das Video zu Ende schauen möchte. «80 Prozent der Nutzer sind innerhalb von fünf Sekunden weg. Und das liegt nicht daran, dass wir schlechte Videos machen», so der «Tagesschau»-Chef.

Vier Strategien gegen Abwanderung bei SRF

Die «Tagesschau» am Fernsehen hat innerhalb der letzten zehn Jahre 30 Prozent Zuschauer verloren. Bei den unter 50-Jährigen beträgt der Verlust gar 65 Prozent. «Wir haben ein Problem», sagte Leuthard.

Die Redaktion habe vier Strategien gegen diese Entwicklung. Erstens werde die ganze Sendung ins Netz gestellt. «Zugegebenermassen ist das nicht sehr kreativ.» Die zweite Strategie seien kurze Online-Videos, 30 bis 60 Sekunden lang, untertitelt und auf Facebook gestellt (persoenlich.com berichtete). Das beste Video auf Facebook – und nicht einmal ein untertiteltes – erreichte gegen drei Millionen Views. «Ich getraue mich fast nicht zu sagen, welches Video das war…», sagt Leuthard, «ein Bericht über die finnische Meisterschaft über Steckenpferdreiten.» Lachen im Saal.

Die dritte Strategie: Seit Januar gibt es einen «SRF Newsflash» nach der Sendung «Sportaktuell». Dieses neue Konzept funktioniere sehr gut. Und zu guter Letzt: Der sich im Bau befindliche Newsroom, von dem Leuthard der Projektleiter ist. 2019 soll der Newsroom in Betrieb gehen. Leuthard erhofft sich dadurch deutlich mehr Beweglichkeit bei der Verbreitung von News.

Das eigentliche Problem ist laut Leuthard aber ein ganz anderes: Es gibt immer mehr sogenannte «News-Deprivierte», die keinerlei News konsumieren. «Wir haben ein Problem mit der direkten Demokratie, wenn die Bürger nicht genügend informiert sind», gibt er zu bedenken.

Wie TV heute funktionieren kann

Anfang 2015 startete mit Rocket Beans der erste unabhängige und Community-getriebene Web-TV-Sender Deutschlands. Rund um die Uhr laufen unterschiedlichste interaktive Show- und Spielformate. «Wir zeigen vor allem, worauf wir selber Lust haben», sagte CEO und Gründer Arno Heinisch im Anschluss an Leuthard. Mit Erfolg: Nach zweieinhalb Jahren beschäftigt der junge Sender bereits 90 Mitarbeiter und zählt zu den einflussreichsten Produzenten Deutschlands. Immer mehr Auszeichnungen gibt es wie «Start-up des Jahres 2016», der «Deutsche Fernsehpreis 2017» oder die Nomination für den «Grimme-Preis 2017».

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Pro Tag wird der Sender von 80'000 unterschiedlichen Zuschauern (Unique Visitors) konsumiert. Eine andere Zahl ist jedoch eindrücklicher. «Unsere Währung sind die Watched Hours, also wie lange unsere Videos konsumiert werden», so Heinisch. 1,2 Millionen Stunden pro Woche kommen so zusammen.

Bezahlt über Branded Content

Finanziert wird der Sender, der sich über verschiedene Plattformen verbreitet, unter anderem communitybasiert durch freiwillige Spenden und Merchandise-Artikel, aber auch durch klassische Vermarktung.

Branded Content und Content Marketing seien für den Web-TV-Sender eine ganz wichtige Finanzierungsquelle. «Unsere Kunden sind häufig sehr mutig und so entstehen auch glaubwürdige Inhalte, die zu unseren Zuschauern passen», sagte Heinisch.

Zum Schluss wiederholte er das Erfolgsrezept des Senders: «Wir machen das, worauf wir Lust haben.»



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