07.05.2017

15 Jahre Jubliäum

Auf den Spuren der «NZZ am Sonntag»

Seit der Gründung vor fünfzehn Jahren ist Felix E. Müller Chefredaktor der «NZZ am Sonntag». Zum Jubiläum hat er Abonnenten mitgenommen auf einen Marsch durch die Geschichte einer traditionsreichen Zeitung.
15 Jahre Jubliäum: Auf den Spuren der «NZZ am Sonntag»
Begrüssung beim Platzspitz: Felix E. Müller führt die Gruppe zuerst zum Gessner-Denkmal. (Bilder: Edith Hollenstein)
von Edith Hollenstein

Er ist eine Viertelstunde früher da. Im Hemd steht er beim Platzspitz Zürich, darüber ein Regenmantel, weil der «Wetterbericht für den Sonntag Feuchtigkeit nicht ausschliesst», wie er in der Einladungs-E-Mail geschrieben hatte. Nach und nach treffen die Teilnehmer ein. Felix E. Müller begrüsst alle einzeln mit festem Händedruck. «Ich freue mich sehr über Ihr Interesse. Aus Anlass des Jubiläums wollen wir nicht nur Promotionen für Neukunden machen, sondern uns auch bei den Abonnenten bedanken», sagt er vor versammelter Gruppe.

Zwar ist ihm äusserlich nichts anzumerken, doch das ist ein besonderer Tag, nicht nur wegen der Führung, die vor ihm liegt. NZZaS.ch ist online. Den Chef nimmt es wunder, wie die neue Website ankommt. «Momentan haben wir 450 Leser», sagt ein ebenfalls anwesender Digital-Projektleiter. «Wie viele lesen Francis Fukuyama?», erkundigt sich Müller. Sein eigener Artikel ist nicht meistgeklickt. «Aha, da holen wir noch auf», meint er, bevor er sich seinen Notizen zuwendet.

Müller redet die nächsten fünfzig Minuten über Salomon Gessner. Gessner, 1730 in Zürich geboren, hatte seine Karriere mit «Idyllen» begonnen. Seine literarischen und malerischen Werke über das harmonische Dasein auf dem Lande waren «ein totaler Welterfolg», erklärt Müller. Mit der Hand holt er zu einer weiten Bewegung aus, bevor seine Finger den gefalteten Zettel wieder umfassen. Müller spricht langsam in astreinem Zürcher Dialekt, manche Worte in auffallend eindringlicher Betonung. Er habe sich schon im Gymi, welches er in Winterthur besuchte, für Geschichte interessiert, obwohl er dann zuerst doch Chemie studierte.

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Salomon Gessner fasziniert ihn gerade deshalb: Vieles an der DNA der NZZ lasse sich auf ihn zurückführen. Und woher kommt die Faszination für die Geschichte Zürichs, bei einem, der in seinen jungen Jahren zugezogen ist? «Wer in Winterthur aufwächst, der gelangt unweigerlich an eine wichtige Weichenstellung: Gehen oder bleiben? Man bleibt mit Überzeugung, oder man geht mit Überzeugung. Für mich trifft Letzteres zu.» Winterthur habe etwas Kleinbürgerlich-Alternatives, das einen nerven könne. «Zudem ist meine Frau eine überzeugte Zürcherin, und mein Schwiegervater war es ohnehin.»

Am 17. März 2002 erschien die erste Ausgabe der «NZZ am Sonntag», welche Müller mitkonzipiert hatte. «Das war sehr emotional. Wir hatten die Zeitung von A bis Z selbst mit einem kleinen, verschworenen Team entwickelt», erinnert er sich. Tobias Trevisan, Marcel Kohler und der mittlerweile verstorbene Thomi Häberling waren dabei.



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Das Projekt habe bis zum Schluss auf wackligem Grund gestanden, denn nach dem Platzen der Dotcom-Blase sei das Klima nicht gerade günstig gewesen. «Die Neulancierung war ein enorm mutiger Schritt», kommentiert Müller. Hugo Bütler, der damalige NZZ-Chefredaktor, habe standhaft und mit weitsichtigem Blick entschieden. Im Rückblick tatsächlich ein weiser Entscheid. Die «NZZ am Sonntag», heute mit einer Reichweite von 416 000 Lesern (MACH Basic 2017-2), gilt Marken-Studien zufolge als sympathisch und glaubwürdig. «Wir fragen immer wieder: Interessiert dieser Stoff die Leser wirklich?» Den Erfolg führt Müller primär darauf zurück, dass es gelungen ist, der Zeitung ein klares Profil als Qualitätstitel im Sonntagsmarkt zu geben. «Das hat sich auch im Werbemarkt positiv ausgewirkt, wo wir heute Leader sind, obwohl wir die kleinste Auflage aller drei grossen Titel haben.»

Müller führt das Grüppchen zum Denkmal. Gessner hatte die «Zürcher Zeitung», aus der 1821 die «Neue Zürcher Zeitung» hervorging, 1780 gegründet. Der Buchdruckersohn war ein «schlechter und fauler Schüler», wie Müller mit spitzbübischem Blick berichtet, habe sich für Kunst, Literatur und Malerei interessiert – die Buchhändlerlehre in Berlin jedoch abgebrochen und sei nach Zürich zurückgekehrt. Dort hatte Gessner keine Lust, im väterlichen Betrieb mitzuarbeiten. Lieber wollte er zeichnen, malen, dichten und mit Freunden das Leben geniessen. Zum Unwillen seines Vaters heiratete er die Tochter eines konkurrenzierenden Verlegers und wurde Teilhaber der Firma Orell & Co.

Gessner sei ein ambitionierter Verleger gewesen, mit aufmüpfigem Programm. Das scheint Müller zu gefallen. Seine Augen leuchten, als er von Gessner als «pfiffigem Verleger» oder «Kämpfer für Ideenfreiheit» spricht, der in gewiefter Art und Weise die Zensurinstanzen umging, indem er fiktive Buchserien produziert oder Angaben über den Druckort gefälscht habe. «Salomon Gessner war weltoffen und unternehmungslustig, hatte privat Witz und Humor, und doch trug er nie den Kopf allzu hoch. Das gefällt mir», sagt Müller im Anschluss.

Die erste Zürcher Zeitung verlegte Gessner im Handdruck-Verfahren in einer Auflage von tausend Exemplaren. Fortan erschien die Zeitung zweimal wöchentlich, jeweils am Mittwoch und Samstag. 

Später, beim Apéro im altehrwürdigen Kommittee-Zimmer im zweiten Stock des NZZ-Hauptgebäudes an der Falkenstrasse, wird Müller die Zeilen vorlesen. Und sich über die originelle Formulierung amüsieren, welche Gessner in der Erstausgabe verwendet hatte, um zu erklären, warum sein Blatt etwas kostet. «Wer nun um die Preise all unserer Hilfsmittel weiss und dieselben mit den Kosten dieser unserer Zeitung vergleicht, wird uns die Gerechtigkeit wiederfahren lassen: dass wir in diesem Fall mit unserem Nutzen auch den Nutzen des Publikums verbinden.» Die Abonnenten, mit Weissweinglas in der Hand, werden schmunzeln.

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Den längsten Halt legt die Gruppe vor dem Haus zum Schwanen an der Münstergasse 9 im Zürcher Niederdorf ein. Hier hatte Gessner nach 1736 bis zu seinem Tod gewohnt. Das Haus ist noch immer in Besitz der NZZ. «Darüber bin ich sehr froh, denn es ist sozusagen das Herz der NZZ. Selbstverständlich ist es aber nicht, denn es kamen immer wieder Manager, die es verkaufen wollten.»

Hier auf der Terrasse vor üppiger Kulisse macht die Gruppe einen Stopp für Fotos und ein Videostatement. Der NZZaS-Chef posiert routiniert. Im Hintergrund der wildüberwachsene Garten: wintergezeichnetes Gebüsch, erste gelbe Forsythien-Blüten. Wird er noch Chefredaktor sein, wenn diese Blätter verbraucht am Boden liegen? Beim Thema eigene Nachfolge bleibt der 66-Jähri- ge einsilbig. Die Gerüchte zur Frage gemeinsamer Chef mit der «Neuen Zürcher Zeitung» will er nicht kommentieren. Er plädiert jedoch dafür, die Eigenständig- keit der NZZaS zu bewahren.

Auch wenn ihm nach all den Jahren die «NZZ am Sonntag» sehr am Herzen liegt: Ihn hätten früher durchaus andere Aufgaben gereizt. «Die alte ‹Weltwoche› hätte ich gern modernisiert», sagt er und fügt an: «Man schickte mich in ein Assessment bei einem Headhunter. Dieser konstatierte meine Nichtbegabung als Chefredaktor.» Vielleicht war diese Diagnose der Antrieb: 2016 erhielt Müller den Zürcher Journalistenpreis für sein Gesamtwerk. «Dank breitem Horizont und exzellentem Netzwerk ist er ein unermüdlicher Ideengeber und ein Antreiber mit guter Nase für Geschichten», lobte Laudator Hannes Britschgi anlässlich der Preisverleihung. Müller habe zudem ein feines Gespür für journalistische Talente.

Demütig steht Müller schliesslich im Komitteezimmer. Dort, wo neben Gründer Gessner lückenlos alle NZZ-Verwaltungsratspräsidenten der Geschichte chronologisch geordnet in Goldrahmen auf dunklem Holztäfer hängen, endet der Spaziergang. Müller bleibt vor dem ersten Ölbild stehen. Ein letztes Mal versetzt er sich in den längst verstorbenen Mann, dem die NZZ ihre Existenz verdankt. Auch wenn sich Gessner nicht hat vorstellen können, dass es die «NZZ am Sonntag» einst geben werde: «Ich bin sicher, Salomon Gessner hätte als innovativer, unkonventioneller, offener Geist sicher Freude am Sonntagskind des Hauses gehabt.»

 



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Kommentare

  • Dr.phil.Peter Wyss - Julen, 09.05.2017 11:07 Uhr
    Der Spaziergang mit Dr. Felix Müller vom Platzspitz durch das Niederdorf und seine Berichte über die Lebensgeschichte, die Persönlichkeit, Arbeitsweise und Wirkung von Salomon Gessner war grossartig. Sie gab einem Berner, der Zürich gerne besucht und recht gut kennt, wunderbare Einblicke in eine faszinierende Welt und die Gestaltung qualifizierter moderner Presse, damals wie heute. Es sind nicht einfach Journalisten, sondern Persönlichkeiten, die hoher Qualität verpflichtet sind. Ich gratuliere zu diesem Jubiläumsanlass "meiner" NZZ a.S," , über die sich meine Frau und ich seit 15 Jahren jeden Sonntag freuen. Grosser Dank gilt auch Frau Edith Hollenstein für ihren Bericht. Peter Wyss
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