08.02.2016

Tamedia

Ist Quellenschutz wichtiger als Fakten?

Im Politblog des «Tages-Anzeigers» erhebt ein «Zürcher Polizist» schwere Vorwürfe gegen die Behörden - ohne mit dem Namen hinzustehen. Medienethiker Vinzenz Wyss kritisiert den Beitrag. Die Zeitung hätte den Anschuldigungen nachgehen müssen. Der Politblog-Verantwortliche Vincenzo Capodici verteidigt seine Vorgehensweise.
Tamedia: Ist Quellenschutz wichtiger als Fakten?
von Lucienne Vaudan

«Ein Polizist redet Klartext», so der Titel des «Tages-Anzeiger» Politblogs vom vergangenen Samstag, der bei Lesern und Journalisten für Wirbel gesorgt hat. Darin wirft der Autor Behörden und Politik vor, Informationen zur Herkunft der Gewalttäter bewusst zu verheimlichen. Tatsache sei, «dass der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund weit über 80 Prozent» liege, Eingebürgerte rechnet Anonymus, der «Polizist aus dem Kanton Zürich» dazu.

Für Wirbel sorgten dabei aber nicht nur die schwerwiegenden Vorwürfe gegenüber den Behörden, denen der «Tages-Anzeiger» bis jetzt nicht nachging, sondern auch, dass sich der Schreiber hinter dem Schutzmantel der Anonymität versteckte.

Das sei eine Ausnahme, bestätigt Vincenzo Capodici, Co-Leiter des Newsnet-Politblogs diese Praxis gegenüber persoenlich.com: «Grundsätzlich gewähren wir unseren Autoren keine Anonymität.»

Der Polizist habe sich beim «Tages-Anzeiger» gemeldet und seine Sicht der Dinge loswerden wollen, habe aber explizit gefordert, nicht namentlich genannt zu werden. «Sich als Mitarbeiter einer Behörde öffentlich zu exponieren ist problematisch, deshalb sind wir ihm da entgegengekommen.» Es sei sonst sehr schwierig, an die Aussagen eines Polizisten zu kommen, sagt Capodici. Er habe sich mit dem Polizisten getroffen und ihn für glaubwürdig befunden.

Politblog nicht das richtige Gefäss

«Quellenschutz ist wichtig», bestätigt der Medienethiker und Professor für Journalistik Vinzenz Wyss. «Anonymität muss möglich sein, wenn eine Person schwerwiegende Konsequenzen aufgrund ihrer Aussagen zu befürchten hat.» Der «Tages-Anzeiger»-Blog sei aber nicht das richtige Gefäss für solch schwerwiegende Vorwürfe, gibt Wyss zu bedenken. «Selbst wenn die Redaktion die Identität und das Motiv der Quelle kennt, ist diese verpflichtet, den erheblichen Anschuldigungen nachzugehen und bei den betroffenen Behörden nachzuhaken.» Dafür stünden dann nach sorgfältiger Recherche genügend andere Varianten von Darstellungsformen zur Verfügung.

Ein anonymer Blogbeitrag, der Anschuldigungen ohne Beweisführung antritt, gebe weder Adressaten noch Lesern die Möglichkeit, den Autor und somit seine Glaubwürdigkeit einzuschätzen. «Ein einzelner Polizist kann vielleicht seinen Berufsalltag schildern, er kann aber nicht verlässliche Aussagen über hochkomplexe statistische Verfahren machen», sagt Wyss.

Replik eines Polizisten-Kollegen folgt

Hätte es nicht eine geeignetere Form für einen solchen Beitrag gegeben? «Der Politblog lässt den Autoren grosse Freiheiten, er versteht sich als offenes Debattenforum. Und die Texte können von den Lesern kommentiert werden», begründet Capodici das Blog-Format. Es bestehe aber die Möglichkeit, das Thema in einem anderen journalistischen Gefäss zu vertiefen, wenn es als relevant und interessant betrachtet werde.

Aber nicht alle Polizisten teilen die Meinung ihres anonymen Kollegen. Auf den Beitrag des Polizisten, der mal Klartext reden wollte, hat sich ein weiterer Polizist beim «Tages-Anzeiger» gemeldet, sagt Capodici. Auch seine Meinung werde nun am Dienstag im Politblog veröffentlicht – aus Furcht vor der Reaktion seiner Kollegen ebenfalls anonym.

Bild: Keystone



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Kommentare

  • Thomas Isler, 09.02.2016 11:19 Uhr
    Kein Mensch interessiert sich heute noch für Ethiker. Gerade Medienethiker sollten sich nicht als Elephant im Porzellanladen entpuppen. Der Beitrag im Tagesanzeiger war unaufgeregt und sachlich argumentiert. Würde man den Namen preisgeben, wäre der Polizist ziemlich sicher seinen Job los. Das wollen Gegner natürlich erreichen aber schützen wir doch diejenigen, die uns die Wahrheit erzählen. Ich habe genug von den Lügen der Politik, egal in welchem Lager. Ich bin diesem Polizisten der Klartext gesprochen hat dankbar und hoffe, dass es noch mehr so mutige Leute gibt.
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