28.02.2006

Kommentar

Marcus Knill über den Rechtschreibedschungel

"Reform der Reform" hemmt Lernprozesse.

Ab 1. August werden die rund zwölfeinhalb Millionen Schüler in Deutschland wieder neue Rechtschreibregeln pauken müssen. Rund sieben Monate nach der Einführung der Reform hat der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, Hans Zehetmair, der Kultusministerkonferenz (KMK) am Montag in Berlin die Empfehlungen für Nachbesserungen übergeben. Die Korrekturen fanden bei den Lehrern ein geteiltes Echo. Reformgegner meldeten sich erneut mit Kritik zu Wort. Kommunikationsberater Marcus Knill analysiert und kommentiert im Folgenden die Irrungen im deutschen Rechtschreibedschungel.

Wie schreibt man

Gewiss haben schon viele Leserinnen und Leser überlegt, ob mit der neuen Rechtschreibung "Stängel" mit ä oder e geschrieben. Kamen Zweifel auf, war mitunter die Antwort zu hören: "Man kann es eben gemäss neuer Rechtschreibung so oder so schreiben". Nach der jüngsten Rechtschreibereform wurden jedenfalls breite Bevölkerungskreisen verunsichert, vor allem jene Generation, der während der ganzen Schulzeit die traditionelle Schreibweise eingetrichtert worden war.

Jahrzehntelang gab es Rechtschreiberegeln, die in unseren Schulen geübt und überprüft werden konnten. Tatsächlich waren nicht alle Regeln logisch. Immerhin kamen laufend sanfte Anpassungen dazu, die jeweils im neuen Duden festgehalten wurden.

Dann traten jene Erneuerer auf, die an Stelle von kleinen Schritten nun mutig einen grossen Wurf versprachen und Nägel mit Köpfen machten. Sie setzten -- trotz einiger Widerstände -- eine grosse Reform durch. Sie versprachen der Bevölkerung eine Vereinfachung der Rechtschreibung. Die Regeln schienen auch viel logischer. In unzähligen Kursen wurden die neuen Grundgesetze gelehrt und gelernt. Schüler und Lehrkräfte machten mit. Die Reform schien Fuss zu fassen.

Irritationen behindern Lernprozesse

Doch zeigte sich bald: Es fehlte vor allem bei Journalisten und Schriftstellern die notwendige Akzeptanz der grundsätzlichen Reform. Obschon die "Sprachreformatoren" die neuen Regeln durchpeitschen konnten und der Staat enorme Summen ausgab, um Schulbücher neu drucken zu lassen, legten sich einige wichtige grosse Zeitschriften auf ihre eigenen moderateren Regeln fest. Die Fortsetzungsgeschichte ist bekannt: Es blieb nichts anderes übrig, als nach Jahren einen Kompromiss zu suchen und eine "Reform der Reform" einzuläuten. Heute ist dieser Schritt (Rückschritt) in Deutschland in Sicht.

Was jedoch beim ganzen "Hin und Her" unberücksichtigt blieb: Jeder Lernpsychologe weiss, wie Irritationen Lernprozesse behindern. Leidtragende sind bei raschen Wechseln all jene Beflissenen, die zuerst die alte Rechtschreiberegeln erlernt hatten, um sich nachher willig umschulen zu lassen und nun plötzlich nochmals eine andere moderatere (endgültige?) Schreibweise erwerben müssen.

Von der erhofften Vereinfachung bleibt nichts übrig

Es darf bezweifelt werden, dass die Reformer das Phänomen "Ähnlichkeitshemmung" (als Störfeld bei Informationsvermittlungen) beachtet hatten. Es ist nämlich erwiesen, dass die Informationsaufnahme problematisch wird, wenn wir mehrere ähnliche Versionen vermitteln. Der Empfänger kann zwar dabei jede Information einzeln aufnehmen, aber er erfasst die Sinndifferenz nicht. Analoge Worte mit unterschiedlicher Schreibweise führen bei Lernenden zwangsläufig zu Störungen, Interferenzen, Irritationen, Ueberlagerungen, die eine Verarbeitung erschweren. Diese Interferenzwirkung wird zu einer Störung, so wie es am Bildschirm zu Ueberlagerungen kommen kann (so "flimmern" beispielsweise gestreifte Hemden am Fernsehschirm). Lernpsychologen empfehlen übrigens, nie gleichzeitig ähnliche Sprachen wie Italienisch und Spanisch zu lernen.

Bei dem "Hin- und Her" von der alten zur neuen Rechtschreibung und nun auch noch zurück zur "Reform der Reform" waren sich die zuständigen Instanzen kaum bewusst, dass die raschen Wechsel und die zahlreichen Aehnlichkeiten zu der besagten Irritation führt. Lernprozesse werden dadurch gehemmt und erschwert, nicht erleichtert. Von der erhofften Vereinfachung bleibt nichts mehr übrig. Es würde uns nicht wundern, wenn die Verantwortlichen diesen unverständlichen Zickzackkurs damit begründen, dies sei für die Bevölkerung ein geistiges Flexibiliätstraining. Für uns widerspiegelt das ganze Drum und Dran rund um die Rechtschreibereform vielmehr eine vorhandene Orientierungslosigkeit.



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