10.07.2016

Tamedia

«Tages-Anzeiger» floppt bei Frauenförderung

Die Stauffacher Deklaration ist gescheitert: In drei Jahren wollte der Tagi den Frauenanteil auf 30 Prozent auf allen Stufen heben. Nun, nach Ablauf der Frist analysiert die Frauendelegierte Susanne Anderegg die Schlappe – und nimmt Chefredaktion und Ressortleiter in die Pflicht.
Tamedia: «Tages-Anzeiger» floppt bei Frauenförderung
Auf Kaderstufe beträgt der Frauenanteil aktuell 17 Prozent – das Ziel waren 30 Prozent: Eine interne Besprechung in der «Tages-Anzeiger»-Redaktion.
von Michèle Widmer

Mehr Frauen in den Redaktionen – und zwar auf allen Ebenen. Mit diesem Anliegen lancierte die Chefredaktion des «Tages-Anzeiger» im Juni 2013 die sogenannte Stauffacher Deklaration. Die Ziele waren klar und aus damaliger Sicht nicht allzu ambitioniert: Die Frauenquote sollte von den damaligen 22 Prozent auf gerade einmal 30 Prozent gesteigert werden – ausgeglichen auf den Stufen Redaktion, Teamleitungen, Ressortleitungen, Tagesleitung und Chefredaktion. Besonders prekär war die Situation aus Sicht der damals gegründeten Frauengruppe um Simone Meier (jetzt «Watson»), Susanne Anderegg, Simone Rau, Michèle Binswanger, Claudia Blumer und Barbara Reye in der Chefredaktion, der Tagesleitung und den Ressorts Ausland und Sport. «Männer sind in den letzten Jahren massiv bevorteilt worden», sagte die damalige Frauendelegierte Simone Meier im Interview mit persoenlich.com.

Dass der Tagi sich in dieser Art der Frauenförderung verpflichtet, stiess in der Branche auf grosse Resonanz. Viele waren erstaunt, dass diese als damals linksliberal bekannte Zeitung so wenige Frauen in den eigenen Reihen hatte. Die NZZ, die Blick-Gruppe und auch das Schweizer Radio und Fernsehen griffen das Thema auf. Beim Tagi war man aufgrund des Acht-Punkte-Plans optimistisch.

17 Prozent Frauenanteil in Leitungspositionen

Zum Ablauf der dreijährige Frist im Juni 2016 macht sich beim «Tages-Anzeiger» Ernüchterung breit. «Die Ziele der Stauffacher Deklaration wurden nicht alle erreicht», sagt die heutige Frauendelegierte Susanne Anderegg gegenüber persoenlich.com. Zwar zeige die Bilanz eine stufenübergreifende Frauenquote von 32 Prozent, in den Kaderpositionen seien aber lediglich 17 Prozent weiblich. Die aktuellen Zahlen beziehen sich wegen der Zusammenführung der Zeitungen auf die Redaktionen von «Tages-Anzeiger», «SonntagsZeitung» und «Magazin».

Seit Anfang Jahr ist Arthur Rutishauser Chefredaktor der drei Publikationen. Auch er hatte die Stauffacher Deklaration als früheres Chefredaktionsmitglied des «Tages-Anzeigers» unterzeichnet. Frauenförderung sei ihm ein wichtiges Anliegen, erklärte er kurz nach Amtsantritt gegenüber persoenlich.com. Würden mehr Frauen in der Redaktion arbeiten, bringe dies einen ganz anderen Blick auf Themen oder die Gewichtung.

Eine Frau in der Chefredaktion

Als Erfolg verbuchen Rutishauser sowie Anderegg, dass mit Judith Wittwer seit Anfang Jahr eine Frau in der Chefredaktion sitzt. Sie leitete davor die Stabstelle der Chefredaktion. Zudem ist die bisherige Co-Wirtschafts-Ressortchefin Angela Barandun nun als Tagesleiterin tätig. Auf die Quote wirkten sich diese Beförderungen allerdings nicht aus, da die früheren Leitungspositionen der beiden nicht wieder besetzt worden seien, ergänzt Anderegg. Weiter erfreulich: Andrea Bleicher wurde Redaktionsleiterin der «SonntagsZeitung». Und mit Marina Bräm konnte kürzlich eine Leiterin für das Infografikteam engagiert werden.

Es gibt aber auch andere Beispiele: So hat Wirtschaftsredaktorin Benita Vogel gekündigt und geht zum Bund. Ihre Stelle wird vorerst nicht neu besetzt. Pia Wertheimer hat die Teamleitung im Zürich-Ressort abgegeben und schreibt nun als Inlandredaktorin für die «SonntagsZeitung». Die Bundeshausredaktorin Anja Buri verlässt Tagi/Bund in Richtung «NZZ am Sonntag». Volontärin Salome Müller übernimmt bis auf Weiteres ihre Aufgaben. Zudem verliert das Bundeshausteam von Tagi/Bund Doris Kleck an die AZ Medien. Dort wird sie im Herbst Co-Leiterin Bundeshaus. Ihre Stelle wird neu besetzt mit Christoph Lenz vom «Blick».

Bei der Anstellung von Lenz, beispielsweise, hätte die Frauendelegierte laut der Stauffacher Deklaration intervenieren können. Soll ein Mann eingestellt werden, kann sie dem betreffenden Ressortleiter eine Gegenkandidatin vorschlagen. Aber: «Potenzielle Kandidatinnen über alle Ressorts und Bereiche in der Schweiz im Auge zu haben, ist nebst der täglichen Arbeit als Redaktorin für den Zürich-Teil unmöglich», erklärt Anderegg.

Die Frauengruppe könne bei der Rekrutierung helfen und habe auch wiederholt Kandidatinnen für freie Stellen kontaktiert und empfohlen. «Grundsätzlich ist es aber Aufgabe der Ressortleiter, stärker nach Mitarbeiterinnen Ausschau zu halten», sagt sie. Damit diese die Forderung ernst nehmen, müsste die Chefredaktion Frauenförderung als lohnrelevantes Leistungsziel festschreiben. Von beiden – Chefredaktion und Ressortleiter – wünscht sich die Frauendelegierte mehr Mut, auch einmal eine etwas unerfahrenere Kandidatin anzustellen, um sie aufzubauen.

Noch kein Abschluss des Projekts

Ernüchtert zeigt sich Anderegg aber auch aufgrund von Gesprächen mit Frauen. Oftmals wollten diese sich eher thematisch vertiefen, als eine Führungsposition anzustreben. Dazu kommt: Die Arbeit bei einer Tageszeitung ist nicht gerade familienfreundlich.

Klar ist für sie, dass sich die Bemühungen der Frauengruppe trotz Zielverfehlung gelohnt haben, weil so eine Diskussion entstanden ist und die Chefredaktion wie die Ressortleiter sensibilisiert worden sind. Mit Judith Wittwer sitze jetzt eine Frau in der Chefredaktion, die sich sehr um das Thema bemühe. Zudem engagiere sich Tamedia redaktionen- und regionenübergreifend verstärkt in der Frauenförderung.

Welche Folgen ein Scheitern der Vereinbarung hat, wurde in der Stauffacher Deklaration nicht festgehalten. Nicht einmal eine offizielle Abschlusssitzung mit der Chefredaktion hat es bisher gegeben. Und in welchem Rahmen sich die Frauengruppe künftig einbringen wird, weiss Anderegg nicht. Sie selbst will den Job als Frauendelegierte nun nach drei Jahren abgeben.

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Susanne Anderegg arbeitet seit über 20 Jahren im Zürich-Ressort des «Tages-Anzeigers». Sie engagiert sich als Frauendelegierte für das Thema Frauenförderung bei der Zeitung.



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