09.05.2017

Fall Jürg Jegge

Verhindert Schnelligkeit das Fairness-Prinzip?

Haben die Journalisten von SRF über den Fall Jegge zu spät berichtet? Oder waren sie einfach sorgfältiger als die Kollegen anderer Medien, die aktueller reagierten? In einem Podiumsgespräch diskutierten Journalisten anhand dieses Falles über Grundsatzfragen.
Fall Jürg Jegge: Verhindert Schnelligkeit das Fairness-Prinzip?
Diskutierten über die Rolle der Medien im Fall «Jürg Jegge» (v.l.): Rainer Stadler (Medienredaktor NZZ), Hugo Stamm (Co-Autor des Buches «Jürg Jegges dunkle Seite – Die Übergriffe des Musterpädagogen»), Gabriella Baumann-von Arx (Leiterin Wörterseh Verlag), Hannes Britschgi (Gesprächsleitung, Leiter der Ringier-Journalistenschule), Lis Borner (Chefredaktorin von Radio SRF) und Tristan Brenn (Chefredaktor TV von SRF). (Bild: Tim Frei)
von Tim Frei

Der Fall Jürg Jegge wirft weiterhin Wellen: Gut einen Monat, nachdem dessen sexuelle Übergriffe publik wurden, folgten 30 bis 40 Journalisten dem Ruf des Vereins Qualität im Journalismus («QuaJou»). Dieser hatte am Montagabend ins Ringier-Pressehaus zum «Q-Club» geladen, einer öffentlichen Podiumsveranstaltung mit dem Thema «Der Fall Jegge und die Fairness». Rainer Stadler (Medienredaktor NZZ), Lis Borner (Chefredaktorin Radio SRF), Tristan Brenn (Chefredaktor TV SRF), Gabriella Baumann-von Arx (Verlegerin des Buches «Jürg Jegges dunkle Seite – Die Übergriffe des Musterpädagogen») und Hugo Stamm (Co-Autor des Buches) diskutierten auf dem Podium über das Verhalten der Medien bei diesem Fall. Dabei ging es vor allem um den Zeitpunkt der ersten SRF-Berichterstattung.

Die SRF-Informationssendungen hatten im Gegensatz zu den meisten anderen Medien erst drei Tage nach der Medienkonferenz über die Jegge vorgeworfenen sexuellen Übergriffe berichtet (persoenlich.com berichtete). «Wir entschieden uns gegen eine sofortige Berichterstattung wegen dem in unseren Leitlinien festgeschriebenen Fairness-Prinzip», erklärte Lis Borner. Dieses besage, dass der Angeschuldigte bei schwerwiegenden Vorwürfen das Recht habe, Stellung zu beziehen.

«Es gab keinerlei Zeitdruck. Hätte sich Jegge nicht geäussert, wären wir ohne seine Stellungnahme rausgegangen», so Borner weiter. Genau dies stiess Hugo Stamm sauer auf: «Das bedeutet doch, dass Täter in Zukunft einfach nichts sagen müssen, um eine Berichterstattung zu verzögern». Zudem war er darüber verärgert, dass bei ihm niemand nach den anderen Zeugen fragte. «Das sind doch alles nur Ausreden», so Stamm. Tristan Brenn reagierte umgehend: «Davon kann keine Rede sein. Wie Lis Borner gesagt hat: Es ging uns darum, dem Beschuldigten Zeit zu geben, sich zu den Vorwürfen zu äussern.»

«Der Entscheid ist uns nicht leichtgefallen. Es hat sich um einen Grenzfall gehandelt», erklärte Borner. Sie hätten seit langer Zeit intern nicht mehr so stark über einen solchen Fall debattiert. «Wir fühlten uns alles andere als wohl dabei, aber ich stehe nach wie vor zu 100 Prozent hinter dem Entscheid», so Tristan Brenn.

SRF übt Selbstkritik

An einem Dienstag wurde das Enthüllungsbuch über Jürg Jegge den Medien vorgestellt (persoenlich berichtete). Am darauffolgenden Donnerstag hatte Jegge dem SRF bestätigt, dass er am Freitag Stellung beziehen würde, wie Borner weiter erklärte. Dies hätten sie dann akzeptiert. Heute sieht man dieses Vorgehen am Leutschenbach selbstkritisch. Brenn und Borner waren sich einig, «dass wir Jegge eine härtere Deadline hätten geben müssen». «Tagesschau»-Moderator Franz Fischlin, der als «QuaJou»-Mitglied ebenfalls im Publikum beim «Q-Club» sass, teilt diese Meinung: «Wir von SRF warteten wohl etwas zu lange und hätten Herrn Jegge in nützlicher Frist ein Ultimatum für eine Reaktion stellen sollen».

Am darauffolgenden Sonntag hatte Borner im «Echo der Zeit» in einem Kommentar erklärt, weshalb man erst spät auf den Fall Jürg Jegge eingetreten war (persoenlich.com berichtete). «Das war eine Reaktion auf den Kommentar von Andreas Kunz in der ‹SonntagsZeitung›», der SRF wegen der Verzögerung kritisiert hatte.

«Damit bot sich eine gute Möglichkeit, unsere Arbeitsweise anhand dieses konkreten Falles zu erklären», sagte Borner. Auch hier meinte sie selbstkritisch, dass das einen Tag früher hätte sein sollen. «Wir müssen in Zukunft mehr darlegen, wie wir arbeiten», sagte sie weiter. Einen solchen reflektierenden Kommentar könne das SRF grundsätzlich schon machen, meinte Rainer Stadler, die anderen Medien hätten aber mehrheitlich auch nicht einfach unüberlegt berichtet.

Franz Fischlin begrüsste den Beitrag von Borner im «Echo der Zeit». «Ich würde mir aber wünschen, dass SRF die Kommentare wieder einführen würde», erklärte er gegenüber persoenlich.com. Darunter versteht er sowohl Kommentare zur eigenen Berichterstattung als auch Einordnungen von SRF-Journalisten von Ereignissen wie zum Beispiel bei Abstimmungen.

Kritik an anderen Medien

Ab Freitag nach der Publikation nahm Jegge erstmals zu den Vorwürfen Stellung. Die von da an einsetzende Berichterstattung von Schweizer Medien kritisiert Franz Fischlin: «Jegge konnte sich in diversen Online- und Printmedien sowie TV-Stationen äussern, ohne dass seine Aussagen von Experten wie beispielsweise Psychologen eingeordnet wurden. Damit hat man Jegge eine Plattform geboten.» Jegge habe sich doch mit seinen Aussagen selber demontiert, meinte Rainer Stadler. «Auch die Opfer konnten in diesen Beiträgen nicht Stellung beziehen. Insofern wurde auch die Ausgewogenheit verletzt», so Fischlin weiter.

Stamm lobte das NZZ-Interview mit Jürg Jegge und kritisierte gleichzeitig jenes im Tagi: «Während der Journalist der ‹Neuen Zürcher Zeitung› stets nachfragte, machte jener des ‹Tages-Anzeigers› dies nicht, und die Bezeichnung ‹sexueller Kontakt› für das Vergehen zog sich durch das Interview».

Gabriella Baumann-von Arx konnte zu Beginn des Podiums darlegen, wie es zum Buch kam. Sie bedauert, «dass sich das Buch schlecht verkauft. Jedenfalls viel schlechter als wir erwartet hätten».

 



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Kommentare

  • Dieter Widmer, 10.05.2017 09:00 Uhr
    Obschon ich die Nachrichten von Radio SRF sehr schätze: Im Fall Jegge hat die Nachrichtenredaktion eine falsche Beurteilung gemacht. Die Printmedien berichteten drei ganze Tage über den Fall berichteten, bis Radio SRF erstmals einen Beitrag sendete. Radio SRF hätte ja verschiedene Medien als Quelle angeben können. Ich glaube Liz Borner nicht, dass Radio SRF noch nie einen Beitrag gesendet hat, ohne dass Betroffene zu Wort gekommen sind.
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