10.02.2014

Frank A. Meyer

"Die Schweiz muss wieder ein Wagnis werden"

Dürrenmatt, Frisch, Herzog & de Meuron und verpasste Chancen in der Politik: Ein Gespräch mit Frank A. Meyer über die Schweiz und ihr kreatives Potenzial. Der folgende Text erschien erstmals im "Cicero - ADC Magazin für Kreativkultur".
Frank A. Meyer: "Die Schweiz muss wieder ein Wagnis werden"

Herr Meyer, was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Verbindung der Wörter "Kreativität" und "Schweiz" denken?
Frank A.Meyer: Tüchtigkeit. Die Schweizer sind in erster Linie tüchtig – nicht kreativ. Allerdings beruht ihre Tüchtigkeit in manchen Bereichen auch auf Kreativität.

Erläutern Sie das bitte!
Die Schweiz ist im Bereich der Realwirtschaft Weltklasse. Ich würde sogar sagen: das kompetitivste Land der Welt. Dahinter stecken natürlich kreative Menschen. Aber stets in Verbindung mit Tüchtigkeit und Fleiss.

Heisst das, dass die Kreativität in der Schweiz immer mit einer gewissen Zielgerichtetheit einhergeht?
Ja, es geht in der Regel um wirtschaftlichen Nutzen. Das bedingt eine sehr konkrete und pragmatische Kreativität: Sie muss sinnvoll sein, nützlich und zielgerichtet, sie muss sich am Markt bewähren – ein Urreflex in einem Land, das nicht über Rohstoffe verfügt.

Wie steht die Schweiz anderen Formen von Kreativität gegenüber – jenen, die keinen direkten Nutzen hervorbringen?
Sie meinen die künstlerische und intellektuelle Kreativität? Da ist die Schweiz mit ihrem Anspruch an Tüchtigkeit, Fleiss und Nützlichkeit dem freien Künstler und dem libertären Denker eher hinderlich. Es ist ja interessant, dass ein besonders kreativer Bereich ganz besonders eng mit der Wirtschaft verknüpft ist: die Werbewirtschaft. Auch in der Gestaltung von Werbung gehören wir zur Weltspitze. Schweizer Werbung war schon immer weit über die Landesgrenzen hinaus stilprägend.

Woran denken Sie konkret?
Ein klassisches Beispiel ist die Swissair‐Kampagne von GGK.

Und neben der Werbung?
Neben der Werbung denke ich vor allem an die Architektur. Auch da setzt die Schweiz Massstäbe. Und auch diese Kunst – teilweise handelt es sich ja tatsächlich um Kunst – ist mit der Wirtschaft eng verbunden. Heutige Architektur, denken Sie nur an das Basler Duo Herzog & de Meuron, ist ohne eine tüchtige und fleissige Geldmaschine gar nicht vorstellbar, die sich solche Kreativität leisten kann – und die Kreativität ihrerseits sollte geeignet sein, materiellen Erfolg zu repräsentieren. Jean Tinguely hat das Schweizer Nützlichkeitsdenken mit seinen nutzlosen Maschinen künstlerisch ad absurdum geführt.

Aber muss man denn nicht, wenn man in diesen Bereichen erfolgreich sein will, erst einmal losgelöst von aller Wirtschaftlichkeit und Tüchtigkeit "herumspinnen", damit man erfolgreich sein kann?
Gewitzte Werbetexter tun das doch, man erwartet es sogar von ihnen! Viele sind ja verhinderte Dichter oder Literaten. Die Werbewirtschaft weist solchen Künstlern dann den Weg in die wirkliche Welt. Denn reines künstlerisches Schaffen – auch wenn es zum Teil gefördert wird – hat in der Schweiz einen schweren Stand. Was nicht immer so war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Schweizer Literatur von grösster internationaler Bedeutung: Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt besetzten mit ihrem kritischen Werk das von den Nazis niedergewalzte Feld der deutschen Literatur. Die freie Sprache und das freie Wort dieser Dichter waren für deutsche Leser eine Labsal. Mit Frisch und Dürrenmatt strahlte die Schweiz kulturell weit über die Landesgrenzen, sogar über den Kontinent hinaus. 

Heute ist nicht mehr viel davon übrig.
Das sehe ich ähnlich. Womit ich nicht behaupten möchte, die Schweiz sei kulturelle Provinz. Das wäre herablassend. Aber sie wird jenseits der Landesgrenzen allzu selten wahrgenommen. Eine Ausnahme, die im Geiste noch zur Generation der Dürrenmatts und Frischs gehört, ist Adolf Muschg. Als international wirksame Schriftsteller fallen mir spontan Urs Widmer oder Thomas Hürlimann ein.

Was hat die Schweiz in politischer Hin- sicht falsch gemacht?
Für die helvetische Politik ging der Zweite Weltkrieg, wenn man es genau nimmt, erst 1989 wirklich zu Ende – mit dem Fall der Mauer und der Auflösung des Sowjetreiches. Bis dahin war die Schweiz eine geschützte Nation. Sie stand unter Denkmalschutz von USA und Nato und musste sich nicht in die Welt hinauswagen. Das Aussenministerium in Bern galt als das unwichtigste Departement des Bundesrats, darum überliess man es meist den Sozialdemokraten. Die Politik blieb zu Hause, die Wirtschaft ging in die Welt. Damit entkoppelte sie sich von der Politik – letztlich auch von der Gesellschaft. Wir haben das mit unserer global spekulierenden Finanzwirtschaft leidvoll erlebt: Sie wurde grössenwahnsinnig.

Ist der Weg, den die Schweiz politisch geht, nicht auch ein kreativer Weg?
Kreativität wird manchmal auch erzwungen! Die Schweiz steht zurzeit vor einem grossen historischen Bruch, der uns die Fähigkeit zur Gestaltung von Zukunft abnötigt – ob wir wollen oder nicht. Dabei reagieren wir immer noch misstrauisch auf kreative Ideen. Wir versuchen lieber, die kleinen Vorteile, die wir unter Schutz und Schirm des Kalten Krieges ergattern konnten, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Müsste die Schweiz nicht, aus den Erfahrungen im eigenen Staat, aus der Innenpolitik, aus dem System der direkten Demokratie heraus, prädestiniert sein für kreative politische Prozesse?
Absolut! Wir müssten uns allerdings trauen, dieses kreative Potenzial auch auszuschöpfen. Kreativität ist ein Wagnis: Deshalb muss die Schweiz wieder zum Wagnis werden! Die Zeit der Beschaulichkeit und Rechthaberei, die wir allzu lang als immerwährend betrachteten, ist abgelaufen. Und doch beansprucht unser Land noch immer das Recht auf eine Art Sonderstatus. Wir haben uns darauf kapriziert, eine Festung zu sein. Während die Globalisierung rasant um sich griff, gaben wir uns der Mythologisierung unserer Geschichte hin, die mit der modernen Schweiz längst nichts mehr zu tun hat: Rütli und Morgarten, Winkelried und Bruder Klaus – je weiter zurück, je pathetischer und verklärter, desto lieber. Andere Nationen konnten sich diesen Luxus nicht leisten. Denen blies der Weltwind scharf und heftig um die Nase.

Inzwischen hat die Schweiz verpasst zu lernen, wie man den steifen Weltwind als Antrieb nutzt.
Die Schweiz spielt auf dem internationalen Parkett kaum eine Rolle. Schauen Sie nach Deutschland: Unser nördlicher Nachbar ist dabei, zur drittwichtigsten Nation der Welt aufzusteigen, politisch wie wirtschaftlich. Wir Schweizer gehören zur deutschen Sprachkultur, wir sind kulturell ebenfalls Deutsche, sosehr diese Feststellung die Deutschschweizer seit Generationen zu heftigem Protest bewegt – lange Zeit übrigens mit gutem Grund. Doch in der politisch‐kulturellen Debatte über sämtliche Themen der Zeit, wie sie in den deutschen Medien ständig geführt wird, spielen Schweizer Stimmen praktisch keine Rolle. Es sei denn, man braucht jemanden für die Talkshows, der dumm‐dreist nationalistische Sprüche von sich gibt.

Beschädigt diese Haltung die Marke Schweiz?
Aber ja! Die Marke Schweiz ist wie die Milka‐Kuh: farbenfroh bemalt, von bester Qualität und genussvoll zu konsumieren, unter anderem als Shopping‐ oder Ferienziel. Im Übrigen nimmt man die Schweiz nicht sonderlich ernst. Es sei denn als windigen Akteur im Streit um Vermögen und Steuern. Ansonsten bewundern uns die Deutschen als schlaues "Alpenland", wie sie es herablassend‐freundlich bezeichnen. Wenn man ihnen die globale Bedeutung der schweizerischen Realwirtschaft unter die Nase reibt, dann staunen sie.

Wofür bewundern uns die Deutschen genau?
Wahrscheinlich dafür, dass wir darauf beharren, eine Insel zu sein, mitten in Europa. Gleichzeitig sind wir Fluchtort für Gelder und Geschäfte aller Art – vom besten bis zum schlimmsten. Ich habe beim Zeitunglesen manchmal das Gefühl: Jede dubiose Geschichte in der Welt endet irgendwo in der Schweiz.

Apropos Zeitungslektüre: Warum sind die Deutschen so viel kreativer, was das Zeitungmachen anbelangt?
Da muss man differenzieren: In der Berichterstattung sind die Schweizer Medien wesentlich internationaler als die deutschen. Die Deutschen beschäftigen sich zunächst mit ihrem Land und dann noch mal mit ihrem Land – es ist ja auch gross! Doch sobald es um intellektuelle Auseinandersetzungen geht, um Essays und Analysen, sind die deutschen Medien den schweizerischen deutlich überlegen. Die Schweiz ist, wie gesagt, stets auf ein nützliches Resultat aus. Intellektualität wirkt da rasch irgendwie unseriös.

Kann ein Heft wie Cicero den politischen Diskurs beeinflussen?
Aber ja doch – Cicero tut das aufs Vorzüglichste! Wir erreichen die gesellschaftliche Elite. Und nicht nur die. Ich kenne niemanden, der Cicero nicht gut findet. Viele meiner Gesprächspartner finden das Magazin sogar ausgezeichnet.

Sie haben einmal gesagt: "Wenn ich heute einem intellektuellen jungen Menschen einen Rat geben kann, dann den: 'Lerne Schreiner, bevor du studierst.'" – Gilt das noch immer?
Sicher! Sir Karl Popper, der Philosoph von Freiheit und Demokratie, einer der bedeutendsten Denker unserer Zeit, hat Tischler gelernt und gern betont, sein Lehrmeister habe ihm mehr beigebracht als die Universität. Ich bin überzeugt, dass Handwerk zum genauen Denken erzieht, auch zu einem tüchtigen und fleissigen – zum Denkhandwerk.

Gilt das auch für die erwähnten kreativen Berufe?
Selbstverständlich! Handwerk ist genau, Handwerk ist überlegt. Ein Tischler kann sich keinen Pfusch leisten. 

Interview: Adrian Schräder, Bild: Ringier

Der Text erschien erstmals Anfang Februar im "Cicero - ADC Magazin für Kreativkultur", der ADC Galazeitschrift 2014, und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Ringier Verlags in unveränderter Form verwendet.



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