05.08.2015

Schweden

"Radioprogramme sind komplett inhalts- und aktualitätsfrei"

Tobias Keller, früher Journalist bei handelszeitung.ch und Radio24, ist vor einem Jahr nach Schweden ausgewandert. Dort ärgert er sich übers Mediensystem. Zeitungen betrieben nur Verlautbarungsjournalismus und die Qualität der schwedischen TV-Sendungen sei so schlecht, dass er kaum noch einschalte. Zudem: Sport oder Service-Public-Leistungen, wie jene von SRF, müsse man über teure Pay-TV-Abos kaufen.
Schweden: "Radioprogramme sind komplett inhalts- und aktualitätsfrei"

Herr Keller, was hat Sie eigentlich bewogen nach Schweden auszuwandern?
Schon als Kind habe ich in Schweden Fische gefangen und die Mitternachtssonne bestaunt. Die Weite, die Einsamkeit, diese endlose Natur haben mich fasziniert und angezogen. Das Leben in Schweden kannte ich von Besuchen im Ferienhaus meiner Eltern. Ein Land und seine Kultur kann man aber nur verstehen - oder versuchen zu verstehen - wenn man vor Ort lebt.

Gibt es noch einen anderen Grund?
Ja, meine Partnerin Anna Bürgi kannte das Land vom Spitzensport her. Sie feierte als Unihockeyspielerin viele Erfolge - unter anderen auch in Schweden. Wir haben das Land von verschieden Seiten kennengelernt und wollten es genauer erkunden. So haben wir diesen Schritt gewagt.  

Ein Entscheid für immer?
Wir haben uns ein Zeitfenster von drei bis vier Jahren gegeben. Dann ist Zeit für eine Stadtortbestimmung und die Entscheidung, wo wir weiter Leben möchten. Nach einem Jahr ist man kaum angekommen und denkt nicht schon wieder an den ganzen Papierkram für eine mögliche Rückkehr.

Sind Sie journalistisch tätig?
Hier in Schweden ist mir das noch nicht möglich. Voraussetzung ist meiner Meinung nach, dass erst die Sprache sitzen muss. Zur Schweizer Medienwelt habe ich immer noch sehr guten Kontakt. In der Handelszeitung und im Tages Anzeiger waren Berichte von mir zu lesen. Im September werden dann im Landbote eine Reportage und Bilder von mir erschienen. Aber auch am Radio bin ich ab und zu zu hören. Zuletzt bei Radio 24.

Interessiert sich die Schweiz für Schweden?
Ich versuche immer wieder Themen anzubieten. Es gibt viel Interessantes, in dem Schweden der Schweiz voraus ist. So zum Beispiel ist das Bezahlen via Handy-App praktisch überall möglich. Mit "Swish" ist das hier ganz einfach. Auch Sozial- und Familienpolitisch gibt es einige spannende Unterscheide und natürlich die Position zur EU und zu Personenfreizügigkeit. Tastatur, Mikrophon und Kamera liegen immer einsatzbereit, natürlich kann man mich auch spontan anfragen, um über Themen zu berichten. Mein Projekt "Denali 2014", welches ich mit Fotograf Patrick Stoll für Tele Züri realisierte, beschäftigt mich auch hier in Schweden. Bildervorträge über die Expedition und das Bergsteigen sind sehr beliebt und gut besucht. Das sind sozusagen die ersten Journalistenschritte auf Schwedisch.

Was arbeiten Sie hauptsächlich?
Am "Gamleby Gymansiet" bin ich ab Mitte August als Lehrer und Coach angestellt. Da kann ich ein neues erstelltes Team unterstützen und mithelfen, Arbeitslose in einem Kurs über 40 Wochen fit für den Arbeitsmarkt im Bereich Gartenbau zu machen. Das knüpft an meine Tätigkeit meiner Firma "Swiss Media Academy" und jener als Dozent an der ZHAW an.

Wodurch unterscheidet sich das Leben in Schweden von dem in der Schweiz?
In Schweden geht alles ruhiger und gelassener zu und her. Der Anspruch an Dienstleistung ist ein anderer in Schweden. Daran muss ich mich immer noch gewöhnen. Bei der grössten Bank hier in Västervik hat der Bargeldschalter von 10 bis 13 Uhr geöffnet. Auch ein Frisörtermin kann schwierig werden; bei Öffnungszeiten von 9 bis 17 Uhr von Montag bis Freitag. Und ich glaube sagen zu können, dass die Schweizer mit mehr Freude und mit mehr Enthusiasmus arbeiten.

Was heisst das?
In der Schweiz sind die Menschen stolz auf ihre Jobs. Hier hat man oft das Gefühl, die Menschen sind froh, wenn Feierabend ist. Interessant festzustellen ist auch, wie enorm viele Menschen beim Staat angestellt sind. Der Staat ist hier fast alles und der Staat konkurrenziert auch offen private Geschäftsvorhaben. Hier in Schweden gibt es ein Strassenverkehrsamt, ein Steueramt und alle Ämter sind gerecht über das Land verteilt. Durch die Grösse des Landes ist alles irgendwo zentralisiert. Persönlicher Service? Fehlanzeige. E-Mailen, Anrufen und stetiges Nachfragen. Ein Besuch z.B. auf dem Strassenverkehrsamt käme einem verlängerten Wochenende gleich. Da die Angestellten wissen, dass die wenigsten Kunden sauer am Schalter auftauchen können, lässt man sich eben Zeit.

Wie erleben Sie die schwedische Medienlandschaft?
Die Gemeinde in der wir leben ist so gross wie der Kanton Zürich und hat rund 31'000 Einwohner. Es gibt eine Zeitung. Dieser unterstelle ich einen sehr hohen Anteil an Verlautbarungsjournalismus. Zu nahe sind sich Inserenten und mögliche kritische Themen. Manchmal ist es zum verrückt werden. Die Geschichten sind offensichtlich und könnten spannend und kritisch beleuchtet werden. Sie werden leider nicht aufgegriffen. So ist auch das Fernsehen. Als Sportfan bin ich total enttäuscht. Ein Service wie jener von SRF, ist hier nur gegen teure Pay-TV-Abos zu erhalten.

Wie kam es dazu?
Das staatliche Fernsehen hat sich aus dem Spitzensport bereits vor über 10 Jahren verabschiedet. Auch bei den News wird mir zu oft nur abgebildet wie es ist und zu wenig hinterfragt. Durch die Weitläufigkeit des Landes entstehen kaum Konkurrenz-Situationen und die Politik ist viel weiter weg vom Bürger als in der Referendumsdemokratie Schweiz. Private Radioprogramme werden für solch grosse Regionen produziert, dass sie komplett inhaltsfrei sind.

Wie meine Sie das?
Es spricht zwar jemand zu dir, doch der Inhalt hat keinen Bezug zu deinem Leben. Vieles könnte jetzt oder auch an Weihnachten gesendet werden, es würde niemand merken. Irgendwie ist es verständlich, wenn man sich vorstellt, dass es von Zürich nach Stockholm so weit ist, wie von Stockholm nach Kiruna (nördlichste Stadt in Schweden). Bei so einer Landkarte passen weder Wetter noch Staumelder ins Programm. Ich bin unangenehm fasziniert von der Fähigkeit ein Radioprogramm zu produzieren das absolut aktualitätsfrei ist.

Konsumieren im Ausland noch Schweizer Medien?
Klar. Die mordenden Kommunikationskanäle lassen das ja auch problemlos zu. Wichtig ist die Balance. Griechenland ist hier kaum ein Thema. Da sind dann auch die deutschen Medien wichtig, um ein breiteres Bild zu erhalten. Meine Infoquellen haben sich um die schwedischen erweitert. Gerne höre und lese ich, was meine Freunde und Kollegen in den Schweizer Redaktionen produzieren. Da ich die Personenfreizügigkeit jetzt selber erdulden musste, ist es spannend zu lesen was im Wahlkampf dazu gesagt und behauptet wird.

Wie nehmen Sie diese wahr?
Manchmal ist es grotesk. Ich sitze in der Küche und meine Radio-Kollegen in der Schweiz berichten via Radio-App vom Gubrist, Brütisellerkreuz und dem ganzen Verkehrschaos. Seit ich hier in Västervik wohne, habe ich auf P4-Kalmar (staatlich) eine einzige Staumeldung gehört. Ein Auto kollidierte mit einem Elch. Und weil es nur eine Strasse gibt, gab es Stau. Manchmal frage ich mich, wie viele Sendeminuten der Stau in der Schweiz frisst. Sonst weiss ich ja, was ich von den einzelnen Titeln zu erwarten habe; dementsprechend wähle ich auch aus. Die Schweizer, aber auch die deutschen Medien machen Geschichten, decken auf und sind kritisch. In Schweden habe ich bisher noch keinen "Spiegel" entdeckt. Auch eine aktive und kritische Sonntagspresse fehlt hier leider. Was ich sehr schade finde. Als ich vor Kurzem einen hier lebenden Amerikaner getroffen habe, kam spontan eine lange Diskussion über Politik zustande. Das ist mit Schweden nur begrenzt möglich. Diskussionen über Religion und Politik sind für viele Tabu.

Was vermissen Sie am meisten von der Schweiz?
Die Berge fehlen mir. Jetzt wäre die Zeit der Hochtouren und der 4000er. Mit Fotoapparat, Steigeisen und Pickel losziehen in einer Seilschaft mit Freuden die Bergwelt erleben! Dann fehlen mir die Bauernmärkte mit dem frischen Gemüse, den Blumen und dem exzellenten Käse. Schweden ist ein Supermarktland und bio weit entfernt. Dann natürlich auch Freunde und Familie. Dafür hat man Wälder voller Pilze und Beeren. Noch vor der Jagd sollte das Jäger-Examen geschafft sein. Und Fischen gehe ich mehrmals die Woche. 

Fragen: Matthias Ackeret, Bild: zVg

 

 

 



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