04.12.2012

Thomas Wyss

"Der Glanz der Felgen interessiert mich mehr als das ganze Auto"

Beim "Tages-Anzeiger" ist er der Mann für die Sonderaufträge und Selbstversuche, bildet mit seiner brillanten Schreibe gesellschaftliche und kulturelle Themen jenseits des Mainstream ab. Nun hat der detailbesessene Thomas Wyss ein neues Buch geschrieben: In "Das um ein Haar geköpfte Matterhorn" (Faro Verlag) geht es um morsende Katzen, mampfende Hochliteraten, zeuselnde Kuratoren und handschriftliche Dokumente von Wilhelm Tell. Oder um einen Mailverkehr zwischen DJ Bobo und DJ Antoine. Und alles könnte wahr sein.
Thomas Wyss: "Der Glanz der Felgen interessiert mich mehr als das ganze Auto"

Herr Wyss, Sie haben soeben ein umfangreiches Buch veröffentlicht. Was tischen Sie uns da genau auf?

Es geht, wie es im Untertitel heisst, um "neu entdeckte und mehrheitlich erschütternde Geheimnisse rund um die Schweiz". Man erfährt zum Beispiel, dass Philipp Meier, der frühere Co-Direktor des Cabaret Voltaire, im Jahr 2010 als "ultimative Kunstaktion" das Dada-Haus niederbrennen wollte, und dass der damalige Kulturchef Jean-Pierre Hoby nicht nur eingeweiht, sondern gar einverstanden war. Eine andere Geschichte schildert, wie es dazu kam, dass eine teure Stoffserviette der Zürcher Kronenhalle Friedrich Dürrenmatt zu seinem letzten vollendeten Roman "Durcheinandertal" inspirierte. Am Verblüffendsten, wenn man so will, ist aber wahrscheinlich ein Mailverkehr zwischen DJ BoBo und DJ Antoine, die sich über eine Sommerhitformel unterhalten – und uns dabei einen spannenden, wenn auch eher unfreiwilligen Einblick in ihr Alltagsleben gewähren.

Auf US-amerikanischen HipHop-Alben prangt jeweils der Hinweis "Parental Advisory: Explicit Lyrics". Müsste auf Ihrem Buch nicht der Hinweis "Mit Vorsicht zu geniessen!" prangen?

Ja, es wäre wohl nichts als anständig gewesen, wenn man das Cover mit einem solchen Sticker versehen hätte. Ich denke, der Verlag hat aus ästhetischen Gründen darauf verzichtet, um das schöne Matterhorn-Bild nicht zu beeinträchtigen. Dafür findet man nun auf der letzten Seite ein "Korrigendum", indem eingestanden wird, dass sich nicht ganz alles genauso zugetragen hat, wie es dargestellt ist. Da man es in der Schweiz ja mag, die Dinge zu kategorisieren und in die passende Schublade zu versorgen, würde ich sagen, es handelt sich um ein "fiktionales Sachbuch". Im Filmschaffen umschreibt man diese Disziplin mit "Doku Fiction". Oder, bei frecheren Inhalten, mit "Mockumentary".

Wie haben Sie sich in das Genre des Mockumentary verliebt?

Ich hatte vor etlichen Jahren einen BBC-Beitrag über eine Spaghetti-Ernte im Tessin gesehen, in dem vermeintlich ernsthafte Gefahren wie der Einfluss des Spätfrostes oder des Spaghettirüsselkäfers auf die Ernte thematisiert wurden. Der Film stammte aus dem Jahr 1957, und es war ein Aprilscherz. Aber dieser eigenwillige Humor, der noch so Absurdes mit einer trockenen Ernsthaftigkeit als glaubwürdig verkauft oder wenigstens verkaufen will, hat mich auf Anhieb fasziniert, vor allem wegen der wie ich finde wohltuenden Art der Irritation, die er auslöst. Als ich dann zu suchen begann, habe ich immer mehr Doku Fictions und Mockumentarys gefunden – komplett überdrehte wie "This Is Spinal Tap", aber auch subtilere wie "Das Fest des Huhns". Wobei mir eben die "realeren" Sachen – beispielsweise "Opération lune" über die gefälschte Mondlandung oder "I’m Still Here" über den sozialen Abstieg von Joaquin Phoenix – bei welchen man als Zuschauer bis zum Schluss nicht so wirklich weiss, was nun stimmt, und was Fiktion ist, klar mehr zusagten. Das ist bestimmt mit ein Grund, dass die Geschichten in meinem Buch auch eher in diese Richtung tendieren.

Sie gehen mit einer unglaublichen Akribie ans Werk, vermengen echte Recherche mit Fiktion zu verästelten Kurzgeschichten. Wie sind Sie dabei vorgegangen? Wie haben Sie Ihre Ausgangspunkte gefunden?

Das Thema "Schweiz" war vom Verlag vorgegeben. Da ich dieses Land beschämenderweise aber gar nicht allzu gut kenne, zumindest was die Geografie anbelangt, versuchte ich, die Geschichten eher von den Personen aus anzugehen – und zwar entweder von real existierenden wie Dürrenmatt, Lenin, Marco Streller oder Paul Freiherr von Eltz-Rübenach, einen ehemaligen deutschen Post- und Verkehrsminister, oder von solchen, die sich gut typisieren lassen, wie Primarschullehrer oder irgendwelche Expertinnen und Experten. Danach notierte ich zu jeder Geschichte einen sehr offenen, ungefähren Verlauf, der Rest hat sich dann beim Schreiben selbst ergeben und entwickelt. Erstaunlicherweise habe ich jedesmal irgendwie ins Ziel gefunden, bisweilen waren dazu allerdings ziemlich verwegene Ab- und Umwege nötig.

Sie scheinen Nebenschauplätze zu lieben. Wieso lassen Sie sich so gerne vom Hauptstrang abtreiben?

Keine Ahnnug, das gehört wohl einfach irgendwie zu meinem Leben, das war schon als Kind so – das Detail, oder eben, der Nebenschauplatz, hat mich schon immer mehr interessiert als das grosse Bild; den Glanz der Felgen oder die Form des Steuerrads fand ich packender als das ganze Auto, um es mit einem Bild aus Bubentagen zu sagen. Wobei ich eingestehen muss, dass sich im Verlaufe der Jahre zu dieser Detailbessesenheit auch eine leicht pathologische Anti-Mainstream-Haltung gesellte: Ich glaubte, irgendwie origineller zu sein, wenn ich Bands, Maler oder Autoren cool fand, oder exotische Dinge ass, die ausser mir niemand kannte. Mit diesem Problem stand ich allerdings nicht ganz alleine da, das war in meinem Freundeskreis weit verbreitet.

Ist das fiktive Schreiben eine Leidenschaft, die in Ihrem journalistischen Alltag – im Kultur- und Gesellschaftsressort des "Tages-Anzeigers" – zu wenig Platz findet?

Nein. Wenn ich im "Tagi" Geschichten über die Entwicklung des Frauenfussballs von den Anfängen bis heute oder über neuartige Beerdigungsmöglichkeiten und -methoden recherchieren und verfassen darf, macht das genauso viel Freude, wie einen fiktiven Mailverkehr zwischen BoBo und Antoine zusammenzufabulieren. Widersprechen würde ich allerdings dem oft gehörten Satz, dass das Leben oder die Realität stets die schönsten Geschichten schreibe – meine Lieblingsgeschichten finde ich meistens in Romanen.

Schmuggeln Sie eigentlich auch schon mal in einen Ihrer unterhaltsamen Artikel – darunter mancher Selbstversuch – ein bisschen Fiktion?

Nein, mein Journalismus hat nichts mit Fiktion zu tun, das überlasse ich andern. Ein paar nette Arbeitskollegen hatten mir zwar früher mal unterstellt, ich hätte mich in gewissen Selbstversuchs-Texten blöder dargestellt, als ich tatsächlich sei, aber das war eine reine Behauptung, sie konnten das nie beweisen.

Hand aufs Herz: Wie oft ist Ihr Recherche-Team tatsächlich ausgerückt, wie Sie im Buch behaupten?

Das Recherche-Team hat es – leider, muss ich sagen – nicht gegeben, ich hätte helfende Kollegen zwar gut gebrauchen aber niemals bezahlen können. Die recherchierten Fakten waren fürs Schreiben aber wichtig. Sie bildeten quasi das "reale" Fundament, auf das ich meine Gedankenspielereien auftürmen konnte...und sie mir stets geholfen, einen Weg ins Ziel zu finden.

Immer wieder thematisieren Sie im Buch das Thema Wahrheit, gehen auf "Fälschungen" und andere Mockumentaries ein, lassen Bürger Alarm schlagen ob der Dreistigkeit der Autoren und Journalisten. Was wollen Sie damit herausstreichen? Ist das ein Appell zu mehr Fantasie?

Ist das so? Ich hatte nach Abschluss des Schreibens eigentlich nicht den Eindruck, dass ich dem Thema "Wahrheit vs. Fälschung" in den Geschichten selbst übermässig Platz eingeräumt habe, aber vielleicht täusche ich mich. Jedenfalls will das Buch bestimmt keine grosse "Message" vermitteln, und es ist definitiv auch kein "Blick in den Abgrund helvetischer Seelenzustände", wir kürzlich jemand behauptete. Wenn man sich aber beim Lesen über ein paar typisch schweizerische Tugenden oder das Verhalten gewisser Figuren amüsieren kann, oder wenn man am Ende einer Geschichte gar den Eindruck hat, sie könnte sich ja vielleicht tatsächlich so abgespielt haben, würde mich das natürlich freuen. Sehr sogar.

Schon in Ihrem letzten Buch "Sammelsurium Schweiz" war einiges gut erfunden. Sie behaupteten etwa, dass der Name des Discoklassikers "Le Freak" auf eine Autopanne von Komponist Nile Rodgers in Frick im Kanton Aargau zurückzuführen sei. Hat Ihnen das jemand geglaubt?

Beim "Sammelsurium" musste ich drei Monate lang vor allem Zahlen und Fakten zusammentragen. Und irgendwann kam dann halt der eine oder andere Moment, wo mir das ein bisschen gestunken hat. Also gönnte ich der Fantasie ganz kleine Ausritte, viele waren es aber nicht, und die Erfindungen sind mehrheitlich genauso so gut versteckt wie Loriots berühmte Steinlaus im medizinischen Wörterbuch Pschyrembel. Aber das mit dem "Le Freak"-Song hat tatsächlich jemand geglaubt, ja, es war ein "NZZ"-Redaktor, der mich per Mail konktaktiere, und mich fragte, ob ich ihm zu dieser schlicht verrückten Geschichte mehr Angaben machen oder gar eine Quelle verraten könne. Ich schrieb ihm dann zurück und gestand meinen "Fehler" ein, danach habe ich nichts mehr gehört. Ich hoffe nun einfach nicht, dass dieser Redaktor den Auftrag bekommt, das neue Buch zu besprechen. Rache ist süss, wie man weiss.

Eine Frage noch: Es gibt kaum Bilder von Ihnen. Weder in Ihren Büchern, noch im "Tages-Anzeiger" oder früher über Ihrer Kolumne im "Züritipp" war je Ihr Gesicht zu sehen. Eine Form von Selbstmystifizierung?

Nein, keineswegs. Ich bin einfach nur schüchtern.

 

Interview: Adrian Schräder

 



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