04.06.2014

Wandzeitung

"Mich faszinierte die Idee, einen Medienbogen zu spannen"

Ungewöhnliches Medien-Comeback des ehemaligen Winterthurer "Stadtblatt"-Machers Guido Blumer.
Wandzeitung: "Mich faszinierte die Idee, einen Medienbogen zu spannen"

Herr Blumer, diesen Freitag lancieren Sie zusammen mit Ihrem ehemaligen "Stadtblatt"-Kompagnon Roger Rutz eine Wandzeitung. Herrscht in Winterthur ein Medienvakuum?
Tja, das kann man wohl so sagen: Die ehemalige Medienlandschaft in der sechstgrössten Schweizer Stadt ist im Laufe weniger Jahre tatsächlich von fünf Parteiblättern auf eine einzige Recherchezeitung geschrumpft. Sowohl die katholische "Hochwacht" beziehungsweise die "NZN" musste eingestellt werden, als auch das freisinnige "Neue Winterthurer Tagblatt", der SVP-nahe "Weinländer" und schliesslich unser linksliberales "Stadtblatt", welches aus dem ehemaligen SP-Blatt "Winterthurer AZ" hervorging.

Und warum?
Das Inseratevolumen ist leider im ganzen Land derart rasch radikal geschrumpft, dass uns unsere überaus treue lokale KMU-Kientel allein nicht retten konnte. Jetzt haben wir immerhin noch den vormaligen demokratischen "Landboten", in den tüchtigen Tamedia-Händen. Die klugen Köpfe der Firmenleitung fahren mit der engen Zusammenarbeit unserer hiesigen Stadtzeitung mit den Zürcher Regionalzeitungen und der "Berner Zeitung" eine überaus kluge Strategie. Und die Kreation der neuen "Landbote"-Zweibundzeitung ist übrigens nicht nur kommerziell, sondern auch inhaltlich und ästhetisch ein Gewinn.

Also doch kein Medienvakuum?
Doch, doch: Das Vakuum bezieht sich weniger auf die Anzahl Titel, als vielmehr auf die Eintopfmeinung. Es besteht in jeder Redaktion die Gefahr, dass ein Schreibteam so zusammengeschweisst ist, dass es viele wichtige Themen nicht mehr kontovers sieht und sich gemeinsam auf dem Weg der Gerechten wähnt. Das problematischste Vergehen in letzter Zeit, entwickelte sich hierorts nach der Tanz-dich-frei-Demo, als die Kommentatorinnen und Redakteure gegenüber der Polizei fort und fort und in krasser Weise die Unschuldsvermutung verletzten und einen veritablen Kampagnenjournalismus betrieb. Ein recherchierter Widerspruch wurde nicht veröffentlicht.



Was gab den Anstoss dazu diese uralte Zeitungsform aus der Versenkung zu holen?
Als glutvoller Medienmensch bin ich nach der Einstellung des "Stadtblatts" zwangsweise von einem Tag zum anderen vom Produzenten zum Konsumenten mutiert. Dennoch las und lese ich weiter täglich leidenschaftlich gerne Zeitung, lebe indes neben den Geschichten, weil ich meine Erkenntnisse mit wenigen Ausnahmen nirgendwo mehr schreiben kann. In solch trüber Stimmung ging ich zum zighundersten Mal an diesem einen Schaukasten vorbei, in dem Bastelartikel ausgestellt waren, und ich habe leise vor mich hingesagt: "Du bist meine Wandzeitung, voilà." Ein hoffnungsvoller Sekundenentscheid, der auch den Gedanken enthielt, dass mit diesem kleinen bezahlbaren Protestmedium wieder Meinung und Kreativität verbreitet werden kann, auch von mir.

Gleichzeitig setzen Sie auf die moderne Kommunikation, auf einen Blog. Weshalb dieser Gegensatz? Und: Werden on- und offline die gleichen Inhalte verbreitet?
Es kursierte auf der Gasse tatsächlich das Gerücht, der alte Blumer könne doch nichts mehr anderes, als Texte auf Papier zu schreiben. Klatsch ist Quatsch! Denn mich faszinierte von Anfang an die Idee, einen Medienbogen zu spannen: Das älteste Medium der Welt, die «Wandzeitung», mit dem Blog, dem modernsten Kommunikationsmittel, zu verbinden. Ab 6. Juni wird täglich ein Kommentar oder eine Kolumne auf ein A2-Papier gedruckt, das während 24 Stunden an der Wand hägt und dann kommt der Text ins Internet und wird dort diskutiert.

Welchen Namen wird Ihre Zeitung haben?
Als Printprodukt: "Wandzeitung", im Internet: www.wandzeitung.ch

Es war zu lesen, dass rund 40 Personen für Ihre Wandzeitung schreiben werden. Wie haben Sie diese rekrutiert?
Ich bin bald 62-jährig und lebte zumeist in Winterthur. Die Hälfte meines Lebens schrieb ich als Werbetexter und dann als Journalist für die "Winterthurer AZ", später fürs "Stadtblatt". Ich habe darum in diesem Umfeld sehr viele kluge Charakterköpfe kennengelernt, die professionell oder passioniert schreiben.

Welche Politiker werden mittun?
Es schreiben die beiden Winterthurer SP-Nationalrätinnen Chantal Galladé und Jacqueline Fehr mit, zudem der Stadtpräsident Mike Künzle, CVP, die Stadträtin Barbara Günthard-Meier, FDP, und die Stadträte Nicolas Galladé, SP, und Matthias Gfeller, Grüne; Mattea Meyer, SP-Kantonsrätin und zahlreiche amtierende und ehemalige Gemeindrätinnen und Gemeinderäte, und ab und an der grossartige Kämpfer gegen den Hunger, Jean Ziegler.



Welches Finanzierungsmodell steckt dahinter?
Bevor wir Sponsoren zu suchen begannen, bot sich der mit uns freundschaflich verbundene Rudi Bindella als Schirmherr an. Die Werbung für die vier Winterthurer Lokale Cantinetta, National, Santa Lucia und Spaghetti Factory umgeben deshalb die papierene "Wandzeitung" und das elektronsiche Umfeld. Eine wunderbare Win-win-Situation.

Sie hängen die Texte direkt vor Ihrer Haustüre auf. Weshalb genau am Obertor?
Das Obertor ist ein Teil des pulsierenden Herzens der Winterthurer Altstadt, ein Drittel des "Schluuchs", wie wir Einheimischen diese schönen Gassen vom Untertor über die Marktgasse bis eben zum Obertor nennen. Und äxgüsi, es ist doch klar, dass das Obertor ob dem Untertor liegt. Wo sonst also, als grad am höchsten Punkt beim Fortuna-Brunnen, soll denn der wunderbarste Fleck in unserer Waldstadt sein? Also! Da hängt auch unser Print.

Mit welchen Reaktionen rechnen Sie?
Die "Wandzeitung" macht den Menschen offensichtlich schon vor der Lancierung Freude. Sie hat aber die Stimme und die Gegenstimme in sich, die Rede und die Widerrede. Es ist deshalb ausdrücklich erwünscht, dass sich die Schreibenden nichts nachbeten. Das wird gewiss nicht immer in Minne geschehen, aber auch nicht unbedingt ennet der typischen Schweizer Nörgelei. Das ist gut für unsere Demokratie.

Welche Themen werden Sie behandeln? Beinhaltet die Wandzeitung nur Kurzfutter oder auch lange Lesestoffe?
Wir schreiben über alles, was uns in der Stadt beschäftigt, in der Schweiz wie auf der ganzen Welt, und das so unterschiedlich wie 41 Menschen unter sich nur unterschiedlich sein können. Roger Rutz und ich wünschen uns vor allem pointierte Kommentare und kreative Kolumnen in einer Länge von etwa 2700 bis 3000 Zeichen. Genug, um eine kleine Geschichte erzählen zu können.

Was haben Sie eigentlich seit der Schliessung des "Stadtblatts" gemacht? Und warum nun die Rückkehr in die Kommunikationsbranche?
Ich habe schon als Kind gerne Hausarbeit gemacht und ja, während der letzten sechs Jahre vor allem viel. Wer indes so wie ich schon als Siebenjähriger unter der Bettdecke mit Papier, Bleistift, Taschenlampe und vor allem Leidenschaft geschrieben hat, kommt wohl nie mehr vom Formulieren weg. Ich habe also den Produktionsweg nie verlassen, aber den Kommunikationweg nicht mehr gefunden. Dass sich dies nun wieder ändern wird, hoffe ich doch sehr.

Kleistern Sie eigentlich höchstpersönlich?
Eine wunderschöne Abschlussfrage, dankeschön. Kleister verwenden wir nicht, nur Magnete. Aber ja, die setze ich Tag für Tag voller Lebensfreude an die Metallwand, die zumindest meine kleine Welt verändert.

Fragen: Marco Lüthi & Adrian Schräder//Bilder: Rolf Schatzmann
 



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