28.11.2013

Weltwoche

"Ein Hauch von Lebensbilanz liegt über dem Unternehmen"

Seine Texte besitzen den "Charme des Improvisierten", genau wie die Materie, die sie behandeln: Seit 30 Jahren schreibt Peter Rüedi in der "Weltwoche" über Jazz. Jetzt sind seine Kolumnen in einem Buch zusammengefasst worden. "Stolen Moments" (Echtzeit Verlag) vereint 1'522 Texte auf 1'320 Seiten. Im ausführlichen Interview mit persoenlich.com nimmt der 70-Jährige dazu Stellung, warum er nie tadelt, warum er sich nicht beschränkt und ob er sich als feuilletonistisches Feigenblatt der bissig-lauten Wochenzeitung sieht.
Weltwoche: "Ein Hauch von Lebensbilanz liegt über dem Unternehmen"

Herr Rüedi, mit "Stolen Moments" (Echtzeit Verlag) erscheinen am 30. November Ihre gesammelten Werke als Jazzkritiker. "Gesamtausgaben sind Grabsteine, und 'gesammelten Werken', wie sie ein renommierter Autor aus Gelegenheit eines runden Geburtstags erscheinen lässt, haftet immer etwas an von einem Nachlass zu Lebzeiten," schrieben Sie im Dezember 1994 in Ihrer Kolumne (es ging um eine Doppel-CD von Fredy Studer und Christy Doran). Wieso erreicht uns jetzt Ihr Nachlass?
Es ist ja kein Schlusspunkt, die Fortschreibung meiner unsystematischen Chronik geht weiter. Aber es stimmt schon: Die gesammelten Kolumnen aus dreissig Jahren haben schon etwas Einschüchterndes. Auch wenn's mir unangenehm ist: Ein Hauch von Lebensbilanz liegt über dem Unternehmen. Aber es waren nun mal besondere Umstände, die dazu führten, vor allem, dass in der Person von Bruno Gut, einem pensionierten Mediendokumentalisten des Schweizer Fernsehens, ich einen Lektor zur Seite hatte, der diese Kolumnen schon sammelte, als an eine Veröffentlichung noch gar nicht gedacht war. Ohne seinen Sachverstand und seine Akribie wäre dieses Buch nicht denkbar. Denn die Druckfassungen der Texte wichen von den Originalen zum Teil beträchtlich ab, wir mussten anhand meiner Originalmanuskripte zuweilen eigentliche Restaurationsarbeit leisten. Der Wunsch nach einer Ausgabe meiner gesammelten Improvisationen über die improvisierte Musik wurde immer wieder an mich herangetragen. Ich weiss nicht, ob ich sonst meine Skepsis gegenüber Zweitveröffentlichungen journalistischer Arbeiten überwunden hätte.      

Ihre Kolumne hat stets etwas Leichtes, Freudvolles, Gewitztes und ist mitten aus dem Leben gegriffen. In einem Ton, der einem Wissen vermittelt, ohne belehrend zu wirken. Haben Sie jemals harte Kritik geübt? Oder haben Sie bewusst immer nur das höchst Empfehlenswerte hervorgehoben?
Meine Kolumnen sind ja nur sehr bedingt Kritiken, ich selber bin eher ein "Auslober" als ein Jazzkritiker. Ich bin weder ein Systematiker noch ein Analytiker im musikwissenschaftlichen Sinn, sondern einer, der einer Musik, die seit seiner Jugend seine Leidenschaft ist, einen Hallraum verschaffen will, oder ein kleines schriftliches Podium, auf dem sie möglichst auch für ein Publikum wahrnehmbar wird, das nicht ohnehin schon mit ihr vertraut ist. Aber nicht wahr: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist Jazz eine Musik für Minderheiten und war das immer gewesen, mit Ausnahme der Epoche des "Swing", als sie die Pop-Musik ihrer Zeit war. Es macht keinen Sinn, mit Verrissen vor etwas zu warnen, was ohne Empfehlung ohnehin keinen hört. Das Jahr hat 52 Wochen, da bleiben mir ebensoviele Empfehlungen, und ich kann Ihnen sagen: Es wäre auf mehr hinzuweisen. Und ja: Das Bedürfnis, seinem Ego mit deftigen Verrissen aufzuhelfen, kommt dem Schreiber mit zunehmendem Alter auch etwas abhanden. Auch wenn er im Wort "Altersmilde" eher einen Euphemismus für Triebschwäche sieht...    

Ihr Buch hat 1'320 Seiten und umfasst 1'522 Kolumnen. Warum diese geballte Ladung Jazzkritik? Liegt nicht, wie in ihren Kolumnen, die Würze in der Kürze? Warum gibt es nicht die hundert besten Kolumnen von Rüedi in Buchform?
Ich könnte nicht sagen, dass sich meine Kolumne durch die Würze der Kürze auszeichnen. Eher durch Umschweifigkeit, durch Abweichungen, Nebengedanken und Assoziationen. Zumindest bis zur kürzeren Form der letzten Jahre. Mir war bald klar: Wenn ich Hand zu einer solchen Edition biete, dann Alles oder Nichts. Natürlich nicht, weil ich jeden Satz für unverzichtbar gehalten hätte. Eher im Gegenteil. Weil diese Texte in der Regel schnell entstanden sind, weil Schreiben für mich leider mit einer gewissen Ausschaltung von Selbstkritik zusammenhängt, und bei dieser Selbstüberlistung ist Zeitnot hilfreich; weil diese Kolumnen nicht ganz unähnlich der Musik entstanden sind, die ihr Thema ist, wollte ich ihnen den Charme des Improvisierten bewahren. Dazu gehören natürlich auch Fehler. Und Wiederholungen. Und Marotten: Das, was Musiker "licks" nennen. Auch Selbstzitate. Eine Auswahl, eine "Best of"-Edition, würde meiner Abneigung gegen alles widersprechen, was mit "Perfektion" zusammenhängt. Es lag mir an so etwas wie einer subjektiven Chronik der laufenden Ereignisse, und nicht an ausgewählten Highlights. Zu einer solchen gehört auch das tägliche Brot. Und auch die eine oder andere Durststrecke.

Wie hat sich Ihr Schreibstil im Laufe der Jahre aus Ihrer Sicht verändert?
Das kann ich selbst am schlechtesten beurteilen. 

Kommen die Wörter mit den Jahren einfacher ins Rollen?
Könnte ich nicht behaupten. Eher im Gegenteil.

Man stellt sich den Job ja gemütlich vor: Der Kritiker in einem Fauteuil sitzend, mit Blick auf die grünen Erhebungen des Tessins, eine gute Flasche Wein zur Hand, aus dem High-End-Gerät perlen edle Klänge. Den Text schlenkert er sich aus dem Handgelenk. Wie weit von der Realität entfernt ist dieses Bild?
Sehr weit. Kein Schreiben, welcher Art auch immer, von der Steuererklärung bis zur Abfassung eines Testaments, und schon gar nicht das, was einen Leser in irgendeiner Weise unterhalten soll, ist gemütlich. Und das Mühsamste ist der erste Satz. Auch bewusstes Weintrinken, weil Sie das schon ansprechen, das aufmerksame Abwägen von Duftnoten und Geschmacksnuancen, würde ich nicht als gemütliche Beschäftigung bezeichnen. Genussvoll schon, aber Genuss hat oft etwas mit der Überwindung von Hindernissen und mit der Lösung von Rätseln zu tun. In der Regel muss man sich um den Genuss bemühen. Nur im Märchen fliegen die gebratenen Tauben ins Maul. 

Die Arbeit der Musikjournalisten im Popbereich hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Heute muss man Blogs durchforsten, um zu neuer Musik zu finden. Man streamt sich durch Unmengen von Durchschnittlichem und Unterdurchschnittlichem. Die Plattenfirmen spielen mittlerweile eine untergeordnete Rolle. Arbeiten Sie noch gleich wie vor 47 Jahren? Oder was hat sich verändert?
Die Branche ist tatsächlich im Umbruch, und einer, der, ganz altmodisch, einen Tonträger noch gern als ein Objekt in Händen hält, der schon den Sprung vom Vinyl zur CD als einen Kulturverlust erlebt hat, ist tatsächlich auf mehr Recherchen angewiesen. Auf Hinweise aus der Fachpresse und den Kontakt mit den Musikern selbst. Aber was wirklich etwas taugt, findet den Weg zu einem Publikum, zuweilen ohne Vermittlung einer Zwischeninstanz. Tatsächlich ist die Lage der Plattenfirmen prekär, wie anderseits auch die Situation der Verlage. Nur mobilisieren neue Vertriebswege - die Entstehung einer neuen Art von "Samisdat" - auch wieder ein eigene Art von Kreativität. Es ist nicht nur schlecht, wenn man sich um Kunst etwas bemühen muss.

Im Pressetext zu Ihrem Buch werden Sie als "Granseigneur der Schweizer Jazzkritik" bezeichnet. Welche in- und ausländischen Kritiker erachten Sie selbst als Granseigneurs? Überhaupt: Lesen Sie, was andere Kritiker so schreiben?
Na ja, "Grandseigneur", "Urgestein": Solche Etiketten sind Alterserscheinungen, man muss sich damit abfinden. Selbstverständlich lese ich die Fachpresse und auch die Kollegen der Tageszeitungen, wo ihnen überhaupt noch Raum für eine ernsthafte Berichterstattung zugestanden wird. Er schrumpft, und ich bedaure das sehr. Nicht nur, aber vor allem im Bereich des Jazz finde ich eigentlich, dass das Radio das interessanteste Feuilleton macht zur Zeit. Um nur den von mir am meisten bewunderten Meister des Jazz-Essays zu nennen: Whitney Balliett, der ein halbes Jahrhundert lang im "New Yorker" über Jazz schrieb.

Kann man das Treiben der Schweizer Jazzszene von Ihrem abgelegenen Wohnort im Tessin aus überhaupt beurteilen? Sind Sie noch viel unterwegs, sind Sie noch dort, wo geswingt wird?
Vom Tessin aus, so gut wie von Genf oder von Basel. In Lugano produziert Paolo Keller für Rete 2 z.B. fabelhafte Programme und Konzerte. Aber es stimmt: Was mich betrifft, bin ich wenig "live" unterwegs, und das hat tatsächlich mit der peripheren Lage meines Wohnorts zu tun. Auch damit, dass im nächstgelegenen urbanen Zentrum, in Mailand, verglichen mit dem kleineren Zürich erstaunlich wenig los ist.  

Noch eine Frage zum Jazz: Viele sagen, der aktuelle Jazz sei verstockt, die Schulen förderten nur Traditionalisten zu Tage, die sich schon in jungen Jahren in einem Korsett von angeblichen Regeln bewegen. Ist dem so? Oder wenn nicht: Wo steckt sie, die hiesige Avantgarde?
Die Schulen lehren, was man lernen kann. Das sind Regeln, und die sind zunächst einmal die, die auch an einem konservativen Konservatorium zur Grundausbildung gehören. Dann allerdings haben sie ihren Studenten Mut zu machen, diese Regeln zu relativieren, in Frage zustellen, sich fortzuentwickeln zu sich selber, einer eigenen Sprache. Es stimmt ja, dass der Jazz sich von dem, was Max Roach noch "the academy oft the streets" genannt hat, zunehmend in eine cleanere Akademisierung fortentwickelt hat. Am bösen Satz, nie habe es so viele junge Musiker gegeben, die so viel können und so wenig zu sagen haben, ist ja etwas dran; auch werden zunehmend Musiker ausgebildet, die, - auch mangels Auftrittsmöglichkeiten, einer kommerziell vitalen Szene - umgehend wieder in der Musikpädagogik landen: im gewisser Hinsicht das Paradox eines geschlossenen Zirkels. Dennoch ist es sehr erstaunlich, wie lebendig die Schweizer Szene in künstlerischer Hinsicht ist. Wie reich an Musikern und Gruppen, die durchaus etwas zu sagen haben.

Sie sind der "Weltwoche" seit Jahren treu. Ihre Kolumne ist einer von wenigen erholsamen Orten in einem rechtspolitisch aufgeladenen Blatt. Sie bilden – gemeinsam mit Filmkritiker Wolfram Knorr und der Kunstsachverständigen Daniele Muscionico – so etwas das feuilletonistische Feigenblatt der Zeitung. Gehen Sie mit dem restlichen Inhalt eigentlich d'accord oder macht man sich diese Überlegungen als externer Mitarbeiter gar nicht? Als Sie Festangestellter waren, war die "Weltwoche" ja noch eine gänzlich andere Zeitung.
Man könnte ja auch sagen: Roger Köppel, dessen politische Ansichten ich eher selten teile, wohl aber die Leidenschaft für den Jazz, habe mir die Treue gehalten. Im Ernst: Ich habe kein Problem mit einem Blatt, in dem meine Kolumnen - die zweite ist eine über Wein - wirklich gewollt sind. Auch nach der Einschränkung auf eine Spalte: Wo wird der Minderheitenmusik Jazz so viel Platz eingeräumt? Wenn Sie zu den von Ihnen genannten Kollegen viele der gelegentlichen Mitarbeiter hinzu nehmen, ist das, was Sie Feigenblatt nennen, schon die ganze Hose. Ich bin der Meinung, als Mitarbeiter habe man Ansichten der Chefredaktion gerade mal in Blättern wie "Leben und Glauben" oder der "Jüdischen Zeitung" mit zu vertreten. Oder zu verantworten. Die Weltwoche ist vielfältiger und kontroverser, als sie von vielen wahrgenommen wird, die sie leider gar nicht lesen.

Sie sind schon lange dabei. Viele lamentieren über den Qualitätszerfall der Medien. Und doch: Je länger je mehr ist man geneigt ihnen recht zu geben. Oder wie sehen Sie das?
Ich habe hier keine Medienkritik zu liefern. Aber ich meine schon, dass kritischer Journalismus (ob von rechts oder links), auch etwas anspruchsvollerer Feuilletonismus, unter Druck der so genannten Serviceleistungen gerät: Inhaltsangaben, Ranglisten, Vorankündigungen etc. Und ich mache mir natürlich Sorgen über die zunehmend schwierigeren ökonomischen Verhältnisse der Printmedien im Qualitätsbereich.

Kulturredaktor, Ressortleiter bei der "Weltwoche", Dürrenmatt-Biograf, Chefdramaturg am Zürcher Schauspielhaus, Jazzkritiker, Weinkritiker – Sie haben schon verschiedene Tätigkeiten ausgeübt. Sie sind erst 70 Jahre jung. Welche sollen da in Zukunft noch dazukommen?
Reicht doch eigentlich, oder?

Zum Schluss noch kurz: Welche drei Tonträger bilden die Höhepunkte des Jazz-Jahres 2013?
Wayne Shorter "Without a Net" (Blue Note)
Craig Taborn "Chants" (ECM)
Woody Shaw "The Complete Muse Sessions" (Mosaic Records)

Interview: Adrian Schräder/Bilder: Echtzeit Verlag


Das Buch "Stolen Moments - 1522 Jazzkolumnen" wird am Samstag, dem 30. November um 15 Uhr - samt musikalischem Rahmenprogramm und Diskussion - im Theater Neumarkt vorgestellt.



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