TV-Kritik

Aufstieg und Fall des Boris Becker

Am 7. Juli 1985 sass ich bei meinem Schwager beim Mittagessen. Es war ein warmer, sonniger Sonntag. Bald zog es uns alle vom Garten ins Wohnzimmer vor den Fernseher: Ein 17-jähriger, rotblonder Junge aus dem deutschen Leimen gewann im Kampf gegen den Südafrikaner Kevin Curren das bedeutendste Tennisturnier der Welt: Wimbledon.

Boris Becker avancierte zum Superhero und blieb über Jahre einer der besten Tennisspieler der Welt. Am Mittwoch wird Becker fünfzig Jahre alt. Ein ARD-Team hat die Tennislegende fast ein Jahr begleitet. Das Erste zeigte den 90-Minuten-Film «Boris Becker - Der Spieler» am Montag. Geplant war er zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr. Wegen Extra-Sendungen über die gescheiterten Koalitionsverhandlungen lief er erst ab 22.20 Uhr. SRF 2 wird die Einblicke bietende Dokumentation am Freitag in der Primetime zeigen.

Die ARD-Autoren reisten mit Becker nach Monte Carlo, wo sich seine erste eigene Wohnung befand. Und nach Paris, ins Stade Roland Garros. Sie begleiteten ihn in die Familienferien nach Ibiza. Zu einem zwölfstündigen Poker-Marathon ins Spielcasino. Oder in die Privatklinik Obach in Solothurn, wo er sich im Juli einer längst fälligen Sprunggelenk-Operation unterzogen hatte. Und sie durften ihn und seine Familie in seinem Haus in Londoner Stadtteil Wimbledon besuchen, unweit des Centre-Courts. Dort, wo alles begonnen hatte. Ebendort, wo der grosse Fighter einst begraben werden möchte.

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Dreimal gewann Bumm-Bumm-Bobbele Becker Wimbledon. Er ging in insgesamt 49 Turnieren als Sieger hervor, darunter sechs Grand Slams. Mit 18 hatte er seine erste Million gemacht. Weitere 25 Millionen holte er an Preisgeldern rein, und ein Mehrfaches an Werbe- und Sponsoring-Einnahmen. Beckers langjähriger Manager, der rumänische Milliardär Ion Tiriac im Film: «15 Prozent werden auf dem Court verdient, 85 Prozent neben dem Court.»

Der ARD-Film zeigt nicht nur Beckers tollste Auftritte als Sportler, er beschäftigt sich auch mit den unzähligen Storys über den Schuldensumpf der einstigen Lichtgestalt. Der Nummer-eins-Sportler hat Abermillionen verdient, jetzt kämpft er um sein Überleben. Allein sein ehemaliger Geschäftspartner Hans-Dieter Cleven fordert als Gläubiger fast 42 Millionen Franken. Es läuft ein Rechtsstreit. Cleven (hat den Handelsgiganten «Metro» mit aufgebaut und gehört zu den 400 reichsten Schweizern) half Becker immer wieder mit Millionenbeträgen aus der Patsche.

Becker wohnte mehrere Jahre in Zug und Zürich, bevor er nach London zog, wo er heute seine Schulden administriert. Ion Tiriac: «Allein von den Zinsen hätte er für immer leben können. Und fünf Generationen nach ihm.» Boris (drei Söhne, eine Tochter) sagt: «Ich bin nicht pleite.» Über Becker sprechen in dem Film neben Tiriac auch Trainer Günther Bosch und ehemalige deutsche Tennisprofis. Ebenso Exfrau Barbara, seine Mutter Elvira, seine Schwester Sabine. Seine heutige Ehefrau Lilly: «Wenn Du mit Boris zusammenlebst, dann hast Du ihn in guten und in schlechten Tagen.»

Schulden, Insolvenzverfahren, Gerichtsprozesse: Becker («Ich bin nicht Euer Boris!») ist angeschlagen. Irgendwie scheint, dass der Deutsche immer noch auf einem anderen Planeten lebt, wie damals als Tennis-Junge: «Wenn ich zurückblicke auf mein Leben, dann habe ich mehr richtig als falsch gemacht.» Seinen Schuldenberg versucht er zu vernebeln. Er bezeichnet die Schlagzeilen über seine finanzielle Misere als «Rufmord» oder gar als «Totschlag».

Einen besten Freund hat Becker nach eigenen Worten nicht. «Es gibt keinen Menschen, der alles von mir weiss.» Auch die ARD-Autoren haben mit ihrer Dokumentation nicht herausgefunden, wer dieser ewige Einzelkämpfer wirklich ist. Somit wurde ihr (an manchen Stellen gleichwohl erhellende Film) vielmehr ein Nekrolog zu Lebzeiten als eine Würdigung. «Who is this guy?» hatte schon die Weltpresse gefragt, als Boris Becker 1985 als jüngster Spieler aller Zeiten Wimbledon gewann. Eine Frage, die bis heute nicht beantwortet und ein Rätsel, das kaum entschlüsselt werden kann. Ich schätze, seinen letzten Punkt hat er noch nicht gespielt.


René Hildbrand
René Hildbrand ist Journalist, langjähriger Fernsehkritiker und Buchautor. Während 27 Jahren war er für «Blick» tätig, danach Chefredaktor von «TV-Star».

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Kommentare

  • Rene Tischler, 22.11.2017 11:27 Uhr
    Habe die Dok-Sendung auch gesehen - weil ich auch Tennis spiele (mein Dad war Tennislehrer). Vergessen ging zu erwähnen, dass Mr. Becker auch mal alleine in die Kirche geht (also glaubt er an etwas Höheres). Tennis erzeugt wie viele andere Spiele, bei denen man sich ganz auf eine Sache konzentriert, einen inneren Flow. Dieser energetische "Fluss" macht, dass man sich glücklich fühlt. Könnte Boris als letzten Ball Meditation (nur atmen, nicht denken) empfehlen: hier ist der höchste "Flow" zu erleben.
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