Anarchie ist das Schöne am Internet. Selbst einer NSA gelingt es nicht, die vollständige Herrschaft über dieses Kommunikationsmedium zu erringen. Dieser Freiraum muss mit allen Mitteln beschützt werden. Vor allem in Zeiten, in denen die klassischen Medien, die berühmte vierte Gewalt, nicht zuletzt wegen des Internets bis zum Skelett abgemagert sind und ihre Kontrollfunktion beim Ausleuchten von Dunkelkammern und Aufdecken von Skandalen nur noch sehr beschränkt wahrnehmen.
Zu den Freiheiten des Internet gehört aber auch, dass jeder Gehirnamputierte Plattformen und Multiplikatoren findet, auf denen er ungehemmt, ungeniert, unzensuriert und meistens ohne rechtliche Folgen befürchten zu müssen gegen jeden Anstand, jeden zivilisierten Umgangston, ja sogar gegen das Strafrecht verstossende Brühe ausgiessen kann, am liebsten anonym.
Wenn in Medien, die noch Filterfunktionen haben, je nach Thema bis zu 80 Prozent aller Kommentare nicht publiziert werden können, haben wir ein Problem. Es besteht nicht darin, dass der Anteil an Mitmenschen, die im stillen Kämmerlein, im Schosse der Familie oder am Stammtisch Abscheuliches von sich geben, seit der Erfindung des Internets zugenommen hätte. Was sich geändert hat, ist die Öffentlichkeitswirksamkeit. Sich gross Gehör zu verschaffen, war diesen Amoks vorher nur schwer möglich. Über lautes Rumkrakeelen oder allenfalls, wenn die intellektuellen Fähigkeiten dafür ausreichten, dem Verfassen eines anonymen Schreibens, das von den Empfängern, auch von Redaktionen, in den Papierkorb geschmissen wurde, ging es nicht hinaus.
Inzwischen braucht es aber nicht mehr als die Fähigkeit, sich eine nicht zurückverfolgbare Gratis-E-Mail-Adresse oder einen gefakten Account auf Social Media zu verschaffen, um potenziell bei vielen Millionen Aufmerksamkeit zu erhaschen. So ergiesst sich diese Kloake über alle in der Öffentlichkeit stehenden Menschen, die mit ihrem Namen hinter einer Meinung oder Position stehen. Das ist unangenehm, aber ständiges Nachschärfen des Filters und periodische Reinigung des Posteingangs schaffen im Nahbereich weitgehend Abhilfe. Und ob man früher üble Beschimpfungen oder gar Morddrohungen per anonymer Post oder heute per anonymer E-Mail bekommt, macht auch keinen grossen Unterschied.
Wenn aber niedrigste Instinkte, teilweise sogar mit echten Absendern, im Internet ausgelebt werden können, haben wir wirklich ein Problem. Es besteht darin, dass die anarchistische Grundstruktur des Internets hier einen rechtsfreien Raum bietet, der ungeniert zu Aussagen benützt wird, die wohl nicht mal am dumpfesten Stammtisch so fallen würden. Eine mögliche Lösung wäre, jeden Hetzer, Verleumder, Rassisten, jeden Verbrecher, der mit Mord und Totschlag droht, via seine IP-Adresse dingfest zu machen und zur Verantwortung zu ziehen.
Dagegen stehen Ländergrenzen, verschiedene Rechtssysteme und weitgehend rechtsfreie Räume mit Internetzugang in der realen Welt. Dagegen stehen das Darknet und das Deep Web, die dunklen und dem normalen Zugang entzogenen Teile des Internets, die gerne auch für kriminelle Tätigkeiten jeder Art genutzt werden. Dagegen steht, dass es wie früher bei anonymen Briefen sehr aufwendig sein kann, den Absender ausfindig zu machen.
Einige Medien sind dazu übergegangen, das Absondern eines Kommentars kostenpflichtig zu machen, denn schliesslich wird hier ja eine Dienstleistung erbracht, die eigentlich nicht gratis sein dürfte. Auch eine sinnvolle Methode. Viele Amoks werden abgeschreckt, und mit den Einnahmen können die nötigen Kontrollen finanziert und damit verbessert werden. Das allgemeine Abschaffen der Kommentarfunktion, was auch von den ersten Massenmedien praktiziert wird, wäre hingegen eine Kapitulationserklärung.
Da der Unterschied zu früher darin besteht, dass dieser Unflat durch Plattformen multipliziert wird, sind schlicht und einfach die Anbieter solcher Lautsprecher in Haftung zu nehmen. Wer Social Media, Kommentarfunktionen oder Multiplikatoren jeder Art anbietet, ist haftbar für den Inhalt. Wer es zulässt, dass unter Benützung seiner Infrastruktur verbal strafbare Handlungen begangen werden, wird bestraft als sei er selber der Urheber. Dürfte in einigen Gegenden der Welt nicht einfach durchzusetzen sein. Aber wenn im zivilisierten Teil der Erde zumindest der Zugang zu diesen Webseiten schlichtweg gesperrt wird, solange sie das nicht abstellen, selbst wenn es sich um Facebook oder Twitter handelt, wäre schon ein grosser Schritt in die richtige Richtung getan.
Es kann doch einfach nicht sein, dass ein Kretin "Politiker XY erschiessen, alle Flüchtlinge umbringen und verbrennen und die Juden vergasen" posten kann, 78 "gefällt mir"-Daumen oder 63 Retweets kriegt – und meistens passiert nichts.