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Bei Jay-Z und Rollings Stones singen alle mit

von Peter Marti

Soeben hat die US-Sängerin Britney Spears ihre über 41 Millionen Instagram Followers mit einem neuen Beitrag überrascht. In zwei kurzen Videoclips hat sie ihren Hit-Song «Hit me baby one more time» neu interpretiert. In der Schweiz ist der Festivalsommer 2022 in vollem Gange. Hunderttausende von Fans klatschen an Open Airs, Musikfestwochen und Konzertreihen ihren Lieblingen auf den Bühnen zu. Nur: Ist ihnen eigentlich bewusst, zu welchen Texten sie applaudieren und mitsummen, welches Gedankengut sie mitsingend und mitgrölend gutheissen?

Britney Spears, Madonna, die Stones, Rapperinnen und Rapper begeistern Menschen auf der ganzen Welt mit frauenverachtenden Texten. Texte, die Frauen beleidigen, bedrohen, diskriminieren. Wo bleibt da #MeToo? Wo der Aufschrei von Frauenbewegungen? Wo die Cancel Culture?

In ganz Europa bemühen sich Printmedien, Firmen und Vereine um gendergerechte Ansprache in ihren Publikationen, ihrer Werbung, ihren Rundschreiben und Mitteilungen. Gleichzeitig gehören frauenfeindliche Hate Speeches und Songtexte zur Tagesordnung und ins Programm der Mainstream-Radiosender. Die sonst um Respekt und Ethik bemühte LGBTIQ-Community gibt sich bei Letzterem ungerührt.

Warum lieben Frauen ausgerechnet diejenigen Männer und ihre Musik, die sie – in den mildesten Fällen – als Sexobjekte behandeln? Die Rolling Stones haben schon 1966 den Titel «Under My Thumb» geschrieben. Im Text geht es unter anderem darum, wie man das «süsseste Haustier der Welt unter den Daumen kriegt». «Ich schlage sie, ich ficke sie, ich liebe sie, ich verlasse sie, weil ich sie verdammt nochmal nicht brauche», brüstet sich Jay-Z in einem der erfolgreichsten Songs der letzten Jahre. Erfolgreich gerade auch bei der weiblichen Zuhörerschaft.

Wieso bloss?

Eine Gruppe von 29 Autorinnen aus England und den USA hat nach Erklärungen gesucht. Ihre Konklusion: «Die Haltung der Frauen zur Musik ist anders als bei Männern.» Und die Mitherausgeberin des Berichtes, Rhian E. Jones, meint: «Was tust du, wenn du einen Künstler und seine Musik liebst, aber gleichzeitig weisst, dass es eine beunruhigende Seite an ihm gibt?» Die Anziehungskraft des Bad Boys scheint nach wie vor zu funktionieren. Die Autorin Amanda Barokh schreibt dazu: «Mein Vater stammt aus dem Iran, und die kleine Amanda schämt sich, wenn er zu arabischer Musik lauthals mitsingt. Mit der Musik von Jay-Z klingen die Flöten aus der Kultur meines Vaters anders, magisch!» Und weiter: «Ich hatte mir vorgestellt, ich wäre keine Frau, sondern der Protagonist des Songs. Und plötzlich bekam ich das Gefühl von Macht.»

Diese Zerrissenheit, diese Sehnsucht nach Unterdrückung einerseits und dem Gefühl, Macht ausüben zu können andererseits, fasziniert viele. Gerade auch aus der Arbeiterklasse und aus Migrationsschichten. Eine Zerrissenheit, die verbindet. In vielen Songs von Künstlern mit Migrationshintergrund werden die Frauen – man muss es so formulieren – behandelt wie der letzte Dreck. Diskriminierend gewalttägige Inhalte sind Standard. «Bitch: Fresse! Bevor ich dir den Sack in den Mund presse!» Als Kool Savas, türkischstämmig, im Jahr 2000 diese Zeile im Song «Lutsch mein Schwanz» rappte, war das einer der ersten Momente, in dem sich Hörerinnen und Hörer fragten: «Darf der das? Ist das nicht zu krass?»

Der Gebrauch von abwertender Sprache in amerikanischen Rap-Texten hat Tradition. Seit den frühen 80ern gab es immer wieder Interpreten, die mit ihren Songs für Empörung sorgten, mit der Verwendung von gewaltverherrlichenden, sexistischen, schwulen- und allgemein minderheitenfeindlichen Begriffen. Bis auch der deutsche Rap sich dieser Sprache bediente, dauerte es – aber es geschah.

2018 zeichnete der Musikpreis Echo die Rapper Kollegah und Farid Bang aus. In ihrem Lied «Ave Maria» gibt es den bemerkenswerten Satz: «Dein Chick ist ‘ne Broke-Ass-Bitch, denn ich fick’ sie, bis ihr Steissbein bricht.» Songs mit Begriffen, die das weibliche Geschlecht beleidigen (Pussy, Bitch, Schlampe, Hure, Nutte, Fotze, Ho, Futt, Kurwa, Flittchen, Miststück e.a.) haben Hochkonjunktur. Sex, auch in seiner allerübelsten Form, verkauft. Oder scheint zumindest kein Hindernis zu sein, wenn es um Verkaufszahlen geht.

Sollen solche Texte zensiert oder ganz verboten werden? Wenn man die Feministinnen befragt, ist der Fall klar. Aber das Problem liegt nicht bei den Texten, sondern bei deren breiter Akzeptanz durch das Publikum – gerade der Frauen. Offenbar besteht ein grosser Bedarf nach vulgären Brutalo-Lyrics, und zwar über alle Gendergräben hinweg. Deshalb würde auch eine Zensur wenig nützen. Im Gegenteil. Die Kriminalisierung des Verruchten führte wohl zu einer gesteigerten Faszination und Nachfrage. Hoch lebe die künstlerische Freiheit.



Peter Marti ist Inhaber der digitalen Kreativagentur Marti Communications.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 


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