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Die Angst des Lesers vor der Beute

von Stefan Millius

Angst. Nackte Angst. Vielleicht ist das Wort übertrieben, aber ich finde gerade kein anderes. Als einer von rund 15'000 Kleinverlegern der «Republik» empfinde ich tatsächlich so etwas wie Angst, wenn ich auf einen der wenigen bisherigen Beiträge im noch jungen Onlinemagazin klicke. Ich befürchte zwei Dinge. Erstens, dass mir der Atem ausgeht, noch bevor ich bei der Hälfte des Textes angelangt bin. Und zweitens, dass ich es zwar schaffe, aber zurückbleibe mit dem Gefühl, nur die Hälfte verstanden zu haben.

«Ich bin nicht Verleger von Kurznachrichten geworden!» Das schreibt einer meiner Verlegerkollegen und will damit sagen: Das neue Medium ist auf dem richtigen Weg. Ich würde gerne zurückrufen: «Ich auch nicht! Aber es gibt so etwas wie einen Mittelweg!» Den sucht die «Republik» auch bereits. Von den rund 50'000 Anschlägen eines Beitrags von Tag 1 hat man auf rund 22'000 Anschläge an Tag 2 zurückbuchstabiert. Besser. Viel besser. Aber immer noch: Uff!

Völlig klar: Hier soll der Jagd nach immer schneller erscheinendem, oberflächlichem und austauschbarem Kurzfutter die Tiefe entgegengestellt werden. Und ich weiss aus Erfahrung, dass es sich lohnt, sich auf einen Text von Constantin Seibt einzulassen. Er könnte 200'000 Zeichen umfassen, er wäre immer noch ein Erlebnis. Nur: Wenn ich vor lauter Tiefe nicht mal mehr den Grund des Bodens erkenne, löst das zunächst keine Vorfreude aus, sondern eben eher Beklemmung. Es geht ja nicht nur darum, den Text zu lesen. Er soll etwas hinterlassen. Und ich soll mit dieser Hinterlassenschaft umgehen können, etwas aus ihr ziehen. Das kann ich vermutlich auch. Aber erst nach der dringend benötigten Erholungspause.

Dazu kommt, dass man sich auf Beiträge dieser Länge und Tiefe bewusst einlassen muss. Das liest man nicht mal eben in der Kaffeepause. Dazu muss man sich zurückziehen, die Türe schliessen, das Telefon ignorieren. Mit anderen Worten: Die Hürde ist zunächst einmal gross. Damit ich die überhüpfe, muss ein ziemlich fettes Steak auf der anderen Seite hängen. Die Steaks bisher waren: Die Gefahr, die von Facebook ausgeht; die Gefahr, die von Maschinen ausgeht; die Gefahr, die von Banken ausgeht. Mir scheint, das sind altbekannte Gefahrenherde. Ohne Frage hat es die «Republik» geschafft, die Themen mit neuen Aspekten zu bereichern. Wenn, und das ist ein dickes Wenn, man es bis zum Ende schafft. Überbordende Länge in Kombination mit Themen, die irgendwie bereits gegessen klingen: Das erfordert sehr viel guten Willen von den Leserinnen und Lesern.

Es ist billig, die «Republik» an Textlängen zu beurteilen. Zumal es so viel Gutes zu entdecken gibt. Die absolute Reduktion im Design: Ein Genuss. Die Leserführung: Klar, transparent, logisch. Die Debatte mit den Autorinnen und Autoren: Noch nicht zu Ende gedacht, aber sehr vielversprechend. Die «Republik» ist, Verzeihung für den banalen Ausdruck, sehr schön geworden. Das ist nicht wenig. Das ist sogar viel. Aber vielleicht kann es sich das neue Medium mittelfristig auch zur Aufgabe machen, nicht nur die Leute abzuholen, die maximale Tiefe erwartet haben, sondern auch diejenigen, die zu dieser Tiefe zwar latent bereit sind, aber an sie herangeführt werden müssen. Langsamer Entzug vom Kurzstoff quasi. Im Moment bietet die «Republik» eher das: Cold turkey. Und der ist bekanntlich schmerzhaft.

 


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