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Die Titel-Lead-Fraktion

von Christian Beck

Mit der Erfindung von Pendlerzeitungen wurden Texte kürzer. Mit dem positiven Nebeneffekt, dass sich vermehrt auch wieder Junge für News aus dem In- und Ausland interessierten. Mit der Erfindung von Smartphones wurden die Texte zwar nicht noch kürzer. Dennoch veränderten sich die Lesegewohnheiten. Dazu beigetragen haben sicherlich auch Push-Nachrichten, die je nach abonnierten Kanälen fast im Zehn-Minuten-Takt eintreffen. Da man nicht alles lesen kann, überfliegt man häufig nur.

Schon länger stelle ich auch auf Newsportalen fest, dass viele nur noch den Titel und den Lead lesen. Gut so, wenn man sich nur einen schnellen Überblick verschaffen will. Bedenklich finde ich, wenn dann diese «Snacker» die Kommentarspalten befüllen. Nicht selten stellt sich später heraus, dass die geäusserte Ansicht falsch (oder unnötig) ist – nur weil nicht der ganze Text gelesen wurde.

Beispiele gefällig? Unter dem Titel «Gleitschirmpilot landet im Vierwaldstättersee» schreibt jemand auf einem Newsportal: «Sieht für mich nach einem Fallschirm aus und nicht nach einem Gleitschirm». Die Antwort kommt von einem anderen Leser: «Weder noch. Das, was Sie sehen, ist ein Notschirm. Steht bei Bedarf auch im Text.» Oder unter dem Titel «Wie rechne ich Devisenkurse um?» gibt jemand den Tipp, dass man dafür auch Google nutzen kann. Ja, steht bereits im Text…

Vor allem auch in den sozialen Medien, allen voran auf Facebook, ist die Titel-Lead-Generation besonders aktiv. Da postet beispielsweise ein Journalist auf seinem Profil einen persoenlich.com-Artikel in eigener Sache. Sprich: In diesem Artikel geht es um seinen Abgang bei einem bestimmten Medium. Prompt fragen seine echten und virtuellen «Freunde»: «Wohin gehst du?». Ein einfacher Klick auf den geteilten Artikel hätte die Frage beantwortet: Im Text sind die Beweggründe für die Kündigung und die Zukunftspläne geschildert. Offenbar aber ist es einfacher, eine Frage einzutippen, statt selber zu lesen. Man scheint es sich gewohnt, dass alles einfach serviert wird.

Die Titel-Lead-Generation ist mittlerweile eigentlich gar keine Generationenfrage mehr. Ich beobachte, dass auch die sogenannten Silver Surfer – also ältere Internetbenutzer – vermehrt nur noch den Titel und Lead lesen. Und dann bereits schon kommentieren. Der Kommentar hätte sich häufig nach dem Lesen des dazugehörigen Artikels erübrigt. Oder hätte zumindest mehr Relevanz und Tiefgang gehabt.

Die Titel-Lead-Generation ist also mittlerweile eine generationenübergreifende Titel-Lead-Fraktion. Ich hoffe nur, dass sich diese wenigstens bei wichtigen Entscheidungen tiefgründiger informiert – so zum Beispiel bei demokratischen Prozessen. Manchmal haben Headlines einfach zu wenig Hand und Fuss.

Wenn Sie aber beim Lesen bis hierhin gekommen sind, freue ich mich. Dann habe ich mich jedenfalls bei Ihnen in der These geirrt.


Christian Beck ist Redaktor bei persoenlich.com.


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