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Ende der Normalität

von Benedikt Weibel

«Das Normale ist oft ohne Bedeutung. Nahezu alles im sozialen Leben wird durch die seltenen, aber folgenschweren Erschütterungen und Sprünge hervorgerufen.» Nie war dieser Satz aus Talebs Buch «Der Schwarze Schwan» so aktuell wie in diesen Zeiten. «Erstmals seit dem 2. Weltkrieg wurde die ganze Welt aus der Normalität herausgerissen», hat heute ein Reporter des Morgenmagazins im ZDF verkündet.

«Das Lästern über verspätete Züge und das löchrige Funknetz wirken wie die Erinnerung an die gute alte Zeit.» Als die Welt noch normal war. Es ist verblüffend, mit welchem Tempo sich jahrzehntelang eingeübte zivilisatorische Gewohnheiten abgelegen lassen. Zum Beispiel beim Grüssen. Oder beim Pendeln zur Arbeit. Was sich weltweit abspielt, liest sich wie ein Seminar über Krisenmanagement. Eigentlich ist das Coronavirus kein Schwarzer Schwan, weil wir ähnliche Muster schon erlebt haben: Sars (2003), H1N1(2010) und Mers (2013). Das haben wir zwar mitverfolgt, aber aus sicherer Entfernung, Asien ist weit weg. Nun scheint es, dass Asien (mit Ausnahme von Japan) diese Krise wesentlich effizienter bekämpft als der Rest der Welt, weil dort die Lehren aus den vergangenen Epidemien gezogen wurden. Europa hingegen hat das Muster, dass sich solche Geschichten nur in Asien abspielen, verinnerlicht. Als Wuhan abgeriegelt wurde, hat der direkt geschaltete Korrespondent der ARD aus Peking gemeint, wir sollten uns glücklich schätzen, dass diese Epidemie in einem autoritären Staat ausgebrochen sei. Zur gleichen Zeit haben mich etliche Ärzte über die Harmlosigkeit des Coronavirus aufgeklärt («Jedes Jahr sterben weit mehr Menschen an einer ‹normalen› Grippe»).

Wenn es wieder passiert, werden wir besser gerüstet sein. Zuerst aber müssen wir aus dieser Krise herausfinden. Das wird erst dann gelungen sein, wenn effiziente Impfstoffe und Medikamente gegen den Virus eingesetzt werden können. In dieser ausserordentlichen Zeit ist auch das permanente Geschnatter über das Potenzial der Digitalisierung abgeklungen. Eine Frage drängt sich in dem Zusammenhang auf: Welche Instrumente der Digitalisierung helfen uns aus der Krise? Etwa die künstliche Intelligenz? Seit Jahren lesen wir über unglaubliche Fortschritte in dieser Domäne. Es wird darüber spekuliert, wann der Zeitpunkt erreicht ist, in der die Intelligenz der Maschine jene des Menschen überflügelt und was dann geschieht. Die Stärke der KI ist ihre enorme Kapazität in der Verarbeitung vorhandenen Wissens. Daraus werden Korrelationen und Muster gewonnen, die wohl nützliche Informationen über die Verbreitung des Virus liefern. Nur ist all dieses immense Wissen in einer ausserordentlichen Lage von beschränktem Wert. «Wir überschätzen unser Wissen über die Welt und unterschätzen die Rolle des Zufalls.» Dieser folgenschwere Satz von Nobelpreisträger Daniel Kahneman steht schon seit Jahren im Raum. In einer Welt der «folgenschweren Erschütterungen und Sprünge» zeigt sich, dass die auf einer deterministischen Logik beruhenden Algorithmen ihre Grenzen haben. Nun ruhen alle Hoffnungen auf der menschlichen Intelligenz von herausragenden Forschern.



Benedikt Weibel ist Professor für Praktisches Management an der Universität Bern und war langjähriger SBB-Chef. Sein neustes Buch, «Das Jahr der Träume – 1968 und die Welt von heute», handelt von den 1968er-Unruhen und ihren Auswirkungen (NZZ-Verlag).

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 

 


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