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Ideen sind gut, Probleme noch besser

von Thomas Ruck

Es ist fast schon ein Klischee zu behaupten, dass das Kundenerlebnis wichtiger denn je sei. Und ich hatte es in einem meiner letzten Artikel auch schon thematisiert. Jede Führungskraft, jeder Marketer und jeder Designer ist sich dessen bewusst; doch mit jedem Tag, der vergeht, wird diese Wahrheit für viele Unternehmen unlösbarer.

Warum?

Unternehmen und ihre Teams sprudeln nur so vor Ideen. Die Wahrheit aber ist, dass viele dieser Ideen kein besseres Kundenerlebnis schaffen, sondern nur Zeit und Geld verschwenden. Und oft wissen Unternehmen noch nicht einmal, ob eine Idee funktioniert hat oder ob sie ein besseres Produkt oder Erlebnis für ihre Kunden hätten entwickeln können.

Warum scheitern so viele Ideen?

Menschen verbringen ihre Karriere damit, sich viel mehr auf Lösungen als auf Probleme zu konzentrieren. Das ist ein natürliches menschliches Verhalten. Schliesslich sind Probleme lästig. Und es gibt viele Fallen, in die Firmen leicht tappen, die sie dazu verleiten, sich zuerst auf Lösungen zu konzentrieren.

  • Table Stakes: bestimmte Dinge, von denen wir glauben, dass sie getan werden müssen, um wettbewerbsfähig zu sein
  • Low-hanging Fruit: Konzentration auf die einfachsten Dinge, in der Annahme, dass sie wertstiftend sind
  • Keeping up with the Joneses: etwas tun, weil die Konkurrenz es auch versucht
  • Follow the Leaders: sie lesen die Fallstudie eines anderen und probieren dessen Idee aus


Warum funktionieren also einige Kundenerlebnis-Innovationen oder neue Features, während die meisten anderen scheitern? Und wie können wir wissen, was funktioniert hat und warum?

Im kreativen Rausch vergessen wir oft, dass Ideen nur Mittel zum Zweck sind, um ganz konkrete Probleme von Menschen zu lösen. Denn Ideen scheitern, wenn sie keine Probleme lösen. Und das Gegenteil ist auch wahr: Je mehr Probleme eine Idee löst, desto mehr Wert wird damit geschaffen.

Damit sind wir beim echten Knackpunkt: Ideen, die Probleme lösen, sind schwer zu finden. Denn für Unternehmen steht bei gescheiterten Ideen viel Geld, Zeit und das Vertrauen seiner Kunden auf dem Spiel.

Hier ein Vorschlag für die richtige Vorgehensweise – wir nennen diesen Ansatz «Problem Solutions Mapping».

  • 1. Ziele: Jeder Kreativ- und Designprozess sollte mit einem klaren Verständnis des Zieles starten, welches man zu erreichen antritt. Richtige Ziele sind spezifisch, messbar, umsetzbar, realistisch und zeitbezogen. Die Conversion Rate für Turnschuhe im Onlineshop in den nächsten zwölf Monaten um 20 Prozent zu erhöhen, könnte eines sein. Sind die Ziele definiert, werden sie priorisiert, von der Unternehmensleitung abgesegnet und mit der ganzen Organisation geteilt. Damit ist diese startklar.

  • 2. Probleme: Von dort aus nutzen wir Daten, Fakten sowie Hinweise von Kunden und Mitarbeitenden an der Kundenfront, um die grössten Probleme, die diese Ziele blockieren, zu identifizieren, sie zu priorisieren und zu validieren. Aber Achtung: Oft ist das anfänglich identifizierte Problem nicht das wahre Problem. Fragen Sie so lange nach dem «Warum», bis die Frage nicht mehr beantwortet werden kann, um zum eigentlichen Problem zu gelangen. Dies sind die Probleme, die es am meisten wert sind, gelöst zu werden.

    Um im Beispiel zu bleiben: Verkaufe ich mehr Turnschuhe im Onlineshop, wenn ich die Kunden nicht zuerst nach ihrer Schuhgrösse frage? Oder ist doch die Zoomeinstellung bei den Produktbildern das Problem, auf das ich meine Kraft richten sollte?

  • 3. Hypothesen: Jetzt kommt der spannendste Teil im ganzen Prozess: die Ideen. Aber wir nennen unsere Ideen nicht Ideen, sondern Hypothesen. Denn genau an dieser Stelle treten viele in die Falle: Statt der Ursache auf den Grund zu gehen, wollen sie das Problem lieber sofort beheben. Oft muss die nächstbeste Idee herhalten; Hauptsache eine schnelle «Lösung» ist gefunden. In dieser Phase geht es aber genau darum, uns selbst kritisch zu hinterfragen und nicht von Ideen auf die falsche Fährte geleitet zu werden – daher nochmals: Hypothesen, und nicht Ideen. Wir stellen uns dazu Fragen wie: Wird die Hypothese das Grundproblem lösen? Wird sie mehr Probleme schaffen, als sie löst? Ist sie spezifisch genug, dass ein Designer, Entwickler und Datenanalyst allein auf ihrer Grundlage experimentieren kann?

    Noch einmal zurück zu den Turnschuhen: Ist das Problem zum Beispiel bei der Wahl der Schuhgrösse verortet, könnten Hypothesen lauten: Ist die Darstellung der Schuhgrösse auf der Seite zu umständlich? Wollen die Kunden lieber erst die unterschiedlichen Modelle vergleichen, ehe sie prüfen, ob der Schuh auch in ihrer Grösse vorhanden ist? Oder sind sich viele Menschen einfach unsicher, was ihre richtige Grösse ist?

  • 4. Experimente: Nun gilt es, diese Hypothesen unter realen Bedingungen zu testen. Entscheidend ist nämlich nicht, was zehn UX-Designer im Brainstorming für die beste Idee halten; sondern was der Nutzer tut. Deshalb entwickeln Designer, Entwickler und Datenanalysten im nächsten Schritt eine Reihe von Experimenten, um zu sehen, welche Idee in der Wirklichkeit am besten funktioniert. So wird zum Beispiel für eine Woche die Frage nach der Schuhgrösse für einen Teil der Nutzer erst ganz am Ende des Kaufvorgangs gestellt; und nicht schon zum Anfang. Oder im Onlineshop taucht in einigen Fällen ein Hilfs-Tool auf, was die Kunden dabei unterstützt, mit Hilfe eines Fotos ihre Schuhgrösse zu bestimmen. Wichtig aber: Experimentieren ist kein Wilder Westen, sondern eine äusserst methodische Arbeitsweise: Ein Experiment erstreckt sich von der Planung, dem Design, der Entwicklung und der Ausführung eines Experiments bis hin zur Validierung, der Erkenntnisgewinnung und der Ableitung der nächsten Aktionen. Es ist ein statistisch verlässlicher Test von Validierungen oder Permutationen gegen Kontrollgruppen in einer kontrollierten Umgebung.

  • 5. Ergebnis: Sobald ein Experiment lange genug gelaufen ist, um eine ausreichende Menge an Daten zu sammeln, ist es an der Zeit zu bestimmen, was die Daten uns sagen. Diese werden uns sagen, ob die Kontrollgruppe oder welche Variation davon (also unsere Hypothesen) besser abgeschnitten haben. Diese Ergebnisse zeigen uns, was unsere nächsten Schritte sein sollten. Dabei stellen wir uns Fragen wie: Was haben wir gelernt? Wie sollten wir das Gelernte anwenden? Was sollten wir als nächstes tun?

    Wichtig auch: Das Ergebnis eines Experiments ist keine finale Konklusion. Vielmehr ist es ein Ausgangspunkt für weiteres, laufendes Lernen und Optimieren.


Evidenz-basiertes Experience Design mag mühsam und aufwendig klingen. Und ja, dieser Prozess ist oft schmerzhaft, weil er bedeutet, sich von vielen vermeintlich guten Ideen zu trennen. Aber er ist notwendig: wir wollen ja verstehen, welche Hypothesen echte Probleme lösen und warum. Denn nur wenn wir diese lösen, schaffen wir bessere, wertvollere und differenzierende Kundenerlebnisse.

Daher meint Rat: Lieben Sie Ihre Probleme – sie sind Ihr wertvollstes Kapital. Finden Sie diese. Verstehen Sie diese und setzen Sie Prioritäten. Dann erst konzentrieren Sie Ihre Investitionen auf ihre Lösung. Denn: Ideen sind gut, aber Probleme noch besser.



Thomas Ruck ist Managing Director bei Accenture Interactive.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 


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