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Kein Charakter

von Roger Schawinski

Ich gebe mir wirklich Mühe, locker zu bleiben. Vor allem, wenn Medienkritiker wieder unsäglichen Stuss verbreiten, was leider etwas gar häufig der Fall ist. Dann atme ich tief durch und versuche, keine Energie für solche Elaborate zu verschwenden, um mich auf erfreuliche Dinge des Lebens zu konzentrieren. Doch trotz aller guten Vorsätze lüpft es mir hie und da den Hut. Zum Beispiel in diesem Fall. Der Weltwoche-Mann Kurt W. Zimmermann schreibt eine wöchentliche Kolumne über Medien, für die er sich also als Fachmann ausgibt. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass er bei diesem engen Thema oft die Ideen aus der Nase ziehen muss, vor allem wenn am Schluss eine bedeutungsschwangere und originelle These formuliert werden soll. So kam er vor kurzem zu folgendem Fazit: «Zeitungen haben Charakter. Das Radio hat das nicht. 56 Minuten pro Stunde unterscheiden sich die Radios dieser Welt nicht im Geringsten. Der Dudelfunk ist identisch in der Schweiz, in Deutschland und in Aserbaidschan. Dann, während vier Minuten, kommen die Nachrichten. Hier kann die Vergleichsforschung minime Unterschiede ausmachen. Manchmal kommen zuerst die lokalen, manchmal zuerst die nationalen News.» Nun, jeder Radiohörer – zu denen Zimmermann offensichtlich nicht gehört – kann bestätigen, dass dies grober Unfug ist und die Wirklichkeit nicht im Entferntesten abbildet. Als Beleg hier einige Angaben zu einem Radio, das ich ziemlich gut kenne, nämlich zu Radio 1. Neben den stündlichen Nachrichten liefert dieser Sender folgende journalistischen Inhalte: jeden Morgen eine aktuelle Kolumne von renommierten Journalisten, darunter jeweils am Donnerstag von Weltwoche-Chef Roger Köppel. Der duelliert sich jeden Montag um 18.10 Uhr mit mir in der 25-minütigen Sendung «Roger gegen Roger», die bei den Podcasts schweizweit immer in den vordersten Positionen steht. Zudem hat Radio 1 Experten zu allen relevanten Themen wie Kino, Gesundheit, Wirtschaft, Recht, Sex, Mode, Kochen, Lifestyle, Musik, Fitness und Literatur im Programm. Neben den Nachrichten gibt es dreimal am Tag «Kompakt», eine 15-minütige Informationssendung mit zwei bis drei recherchierten und gestalteten Beiträgen mit vielen O-Tönen. Am Sonntag empfange ich um 11 Uhr jeweils einen Gast in der einstündigen Sendung «Doppelpunkt», die um 20 Uhr wiederholt wird. Im Laufe des Tages liefert die Redaktion zusätzlich circa zehn Beiträge an. Auch die Moderatoren, die – was die Weltwoche schlicht unterschlägt – einen absolut entscheidenden Einfluss auf das Programm haben, machen pro Sendestunden Interviews und präsentieren zwei bis drei weitere Informationen. Radio 1 liefert in Sachen Information wohl etwas mehr als andere Privatradios, aber auch die sind meilenweit entfernt vom Zerrbild des Weltwoche-Scharfrichters. Und die Sender der SRG offerieren ebenfalls ein vielfältiges inhaltliches Angebot, nicht zuletzt mit dem «Echo der Zeit» und mehreren langen Wortstrecken. Deshalb stellt sich die Frage: Wie kann ein Journalist, der ernst genommen werden möchte, solchen Unsinn verbreiten? Ist es blosser Zynismus, was in diesem Fall eine recht hohe Wahrscheinlichkeit hat? Oder ist es der Wunsch zu provozieren, und zwar auf Teufel komm raus? Oder ist es wirklich das totale Unwissen über den Gegenstand, über den man berichtet? Alle dieser Varianten wären für den Autor dieses Unsinns vernichtend. Meine Schlussfolgerung: Es ist eine Kombination von allem, eine teuflische Mischung von miserablem Journalismus. Denn was für Medien gilt, ist ebenso richtig für Medienleute. Die einen haben Charakter. Die anderen nicht.

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