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Kollateralschaden

von Stefan Millius

«Sie werden nicht glauben, was dieser Mann gleich tun wird»: Wir alle kennen diese verheissungsvollen Ankündigungen auf Facebook. Wer sie anklickt, kommt auf eine Seite mit gefühlten eintausend Werbeeinblendungen, die einen Videoclip umrahmen, in dem ein Mann nichts sehr Spektakuläres tut. Clickbait nennt sich die Disziplin: Neugier entfachen und hoffen, dass sich unter den Millionen von wissbegierigen Leuten ein paar tausend auch auf die Werbung verirren. Unschöne neue Welt. Aber es stirbt immerhin keiner daran.

Facebook hat dem Clickbait den Kampf angesagt. Definiert werden diese als «Links mit irreführenden oder sensationsgierigen Titeln». Zu diesem bösen Mittel hat nun offenbar auch unsere kleine Online-Regionalzeitung «Die Ostschweiz» gegriffen. Es sei wiederholt festgestellt worden, dass wir Clickbait teilen, schreibt Facebook. Zwei Beispiele wurden angeführt. Und nun wird es richtig heiter. Eines davon lautet wie folgt:

Diese Orgel am Bodensee soll gerettet werden, aber…

In Arbon gibt es 4000 Pfeifen. Und um die geht es bei einer Erneuerungsaktion. Die Rede ist von einer Orgel.

Nun ist die Renovation einer Kirchenorgel in Arbon nicht unbedingt der feuchte Traum eines Boulevardjournalisten. Kein Mensch, der die Schlagzeile liest, käme auf die Idee, hier fische jemand nach Klicks. Es wird niemand in die Irre geführt, und eine Sensation kündigen wir auch nicht an. Alles, was wir tun, ist eine Geschichte beginnen. Man kann diese nicht vollständig auf Facebook erzählen, sonst bräuchte es die Zeitung nicht mehr. Ein Lead muss neugierig machen, sonst erfüllt er seine Aufgabe nicht. Wir reissen die Story an, und das natürlich möglichst attraktiv. Aber mal ehrlich: Wer weder aus Arbon kommt noch sich für Orgelrenovationen interessiert, klickt hier nicht drauf. Fischen sieht anders aus. Und das müsste jeder Mensch merken.

Bei Facebook sind allerdings keine Menschen am Werk. Vermutlich war das «aber…» der ausschlaggebende Punkt. Irgendein Algorithmus, genährt vom Misstrauen von Millionen von «Sie werden nicht glauben»-Links, vermutet nun hinter jeder ähnlichen Wortfolge das Böse schlechthin. Und reagiert automatisiert.

Das hat Folgen. Seiten, die (angeblich) auf Clickbait setzen, werden abgestraft, indem ihre Beiträge zwei Wochen lang eingeschränkt ausgeliefert werden. Onlinezeitungen erreichen ihre Verbreitung nach wie vor zu einem guten Stück via soziale Medien. Da geht es ans Lebendige. Übrigens nützt es auch nichts, wenn man eine Überprüfung verlangt. Diese kommt zum selben Resultat. Vielleicht ist in der Tat irgendwann sogar ein Mensch aus Fleisch und Blut involviert, aber der kennt weder die örtlichen Verhältnisse noch den Sachverhalt. Er sieht wohl nur das «aber…», das ihm bekannt vorkommt. Und schmettert die Beschwerde ab.

Facebook ist derzeit noch unverzichtbar für kleine Medien, aber der Fall zeigt: Wenn die Zuckerbergsche Machtmaschinerie absurde Entscheidungen trifft, ist man hilflos. Die grosse Frage, die bleibt: Wenn das System so gut funktioniert, dass sogar Nicht-Clickbaiter im Kugelhagel getroffen werden, wir also quasi Kollateralschaden sind, warum wird mir dann immer noch so viel echter Clickbait angezeigt?



Stefan Millius ist geschäftsführender Partner der Kommunikationsagentur Insomnia GmbH und der Ostschweizer Medien GmbH in St. Gallen.

Der Autor vertritt seine eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.


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