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Miterleben, wie der Tiger springt…

von Christian Beck

Die Einladung zur Medienkonferenz tönt vielversprechend. «Das Buch hat eine Brisanz, die das ganze Land nicht nur interessieren, sondern auch erschüttern wird», schreibt der Wörterseh Verlag darin. Gemeint ist ein «Enthüllungsbuch über eine prominente Person». Vorgängige Fragen werden nicht beantwortet. Kein Wunder, ist das Rätselraten gross – nicht nur auf der persoenlich.com-Redaktion. Ist es jemand aus der Medienbranche? Interessant für uns. Oder doch «nur» ein Politiker? Weniger interessant für uns. Und was hat diese Person «verbrochen»?

Über 30 Journalisten strömen schliesslich am Dienstagmorgen ins Zürcher Volkshaus. Beachtlich. Sie alle sind gekommen: «10vor10», Tagi, TeleZüri, Radio 24, Radio Energy, «Watson»… (persoenlich.com berichtete). Dies, um mitzuerleben, wie der Tiger springt – und als Bettvorleger landet.

Die «prominente Person» ist Jürg Jegge. Hand hoch, wer den Herrn auf Anhieb kennt. Meine Hand bleibt unten. Der als «Musterpädagoge» bekannte Lehrer soll den Neo-Buchautoren Markus Zangger sexuell und psychisch misshandelt haben. Im Buch verarbeitet Zangger das Erlebte. Zugegebenermassen eine tragische Geschichte. Aber: Warum diese Geheimniskrämerei im Vorfeld? Aus Angst, dass der Journalistenaufmarsch kleiner wird, wenn der Verlag ganz sachlich zur «Buchpräsentation von Markus Zangger» einlädt, in der das Buch «Jürg Jegges dunkle Seite. Die Übergriffe des Musterpädagogen» vorgestellt wird? Oder einfach, weil der Verlag Jürg Jegge prominenter einschätzte, als dies vermutlich so manche Journalisten getan hätten?

Wenn der Verlag nicht wollte, dass über die «prominente Person» bereits im Vorfeld berichtet wird, dann hätte eine Sperrfrist auf der Medieneinladung auch geholfen. So hätten aber die Redaktionen besser einschätzen können, ob die zu erwartenden Informationen überhaupt zum eigenen Format passen. Und hätten nicht einfach mal jemanden ins Volkshaus vorbeischicken müssen, aus Angst, etwas Wichtiges zu verpassen und gegenüber der Konkurrenz das Nachsehen zu haben.

Ein solches Vorgehen – ob bewusst gewählt oder nicht – könnte sich als Bumerang erweisen. Wer nämlich M-Budget-Schokolade in Sprüngli-Pralinéschachteln verpackt, tut sich auf die Dauer keinen Gefallen. Ich als Konsument will mich für die M-Budget-Schoggi entscheiden, weil ich sie mag. Und der Journalist will sich für Jürg Jegge entscheiden, weil er sich dafür interessiert. Oder mindestens glaubt zu wissen, seine Leser/Hörer/Zuschauer tun das.

Ist die nächste Einladung zu einer Buchpräsentation ähnlich kryptisch formuliert, könnte das Journalistenaufkommen deutlich kleiner ausfallen. Oder wie sagt ein spanisches Sprichwort: Versprich nichts! Ein gegebenes Wort ist ein Gefängnis mit unsichtbaren Gitterstäben.


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