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Panik auf der Berliner Titanic

von Manfred Klemann

Am Tag des deutschen Pokalendspiels, am 25. Mai 2019, versammeln sich 600 junge Leute im Bodensee-Forum in der deutschen Grenzstadt Konstanz, um zwei Journalisten/Juristen zwei Stunden zuzuhören. Bei deren öffentlichem Podcast «Lage der Nation». Philip Banse und Ulf Buermeyer heissen die beiden Helden, so Mitte 30 und beredt, aber nicht witzig, politisch, aber nicht ideologisch, hintergründig und auch im Detail um Exaktheit bemüht. Diese «Lage der Nation» ist eigentlich ein Podcast, der wöchentlich aufgeschaltet wird. Und nur gelegentlich öffentlich aufgezeichnet wird, mit zunehmendem Erfolg.

Fast 200’000 Follower haben die beiden Berliner sich erredet. Einfach indem sie konsequent jede Woche ihren Podcast in die sozialen Medien stellen und darauf vertrauen, dass die Zuhörer sich ihre «Lage» anhören werden. Jeweils 90 Minuten lang, ungeschnitten. Und ja, das Publikum hört konzentriert zu. Und diese Zuhörer sind jung, zwischen 15 und höchstens 30, wie ich in Konstanz selbst sehen konnte.

«Diese jetzige Jugend ist ja keineswegs unpolitisch»

Für mich ein Aha-Erlebnis. Diese jetzige Jugend ist ja keineswegs unpolitisch, wie uns die Stimmen aus Medien und Politik weismachen wollten. Und die Generation Z verfolgt den Podcast kritisch und aufmerksam und bildet sich dann erst eine Meinung. Die Plauderer Banse und Buermeyer bemühen sich, alle ihre Themen auch juristisch und eben wissenschaftlich (das heisst von allen Seiten) zu betrachten. Da wären die Generation Golf und die Generation X nach spätestens einer Stunde in Tiefschlaf verfallen. Aber die Generation 20.zehn – auch Generation Z genannt – tut es nicht. Sie hört zu. Und sie handelt…

Ein Tag später, am 26. Mai, passiert es dann: Die politische Welt im grossen Kanton war eine andere: Die Generation Z hatte sich bei der Europawahl mächtig zu Wort gemeldet und nicht für die Gleichparteien CDU/CSU/SPD/FDP abgestimmt, sondern mehrheitlich für die Grünen und ganz munter auch neue Parteien wie Volt, Tierschutz, die Partei (Achtung, Satire: zwei Abgeordnete) oder Familie. Und daraufhin entlarvten sich die Einheitsparteien in Deutschland so brutal in einer Woche als wirkliche «Alt-Parteien», dass man es kaum glauben mag.

Die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (genannt AKK) forderte flott schon am Montag darauf ein Meinungsverbot für die sozialen Medien. Genervt von einem Youtuber (Rezo), dessen Anti-CDU-Wahlaufruf über 14 Millionen Menschen gehört und gesehen haben, meinte AKK mit den alten analogen Mitteln des Verbots der Meinungsfreiheit (quasi Uploadfilter für alle und alles) reagieren zu sollen. Schönste Reaktion der Tausenden von Tweets dazu: «AKK meint wohl, aus der urbanen Gesellschaft eine orbane Gesellschaf machen zu können.» Nur das klappt heute Gott sei Dank nicht mehr so einfach. AKK, eigentlich Mutti Merkels natürliche Nachfolgerin, kann diesen Kanzlertraum analog und digital aufgeben.

«Die digitale Welt bringt auch grosse Verbände ins Schlingern»

Und aufgegeben hat auch eine andere, die aus der ganz alten Welt stammt, obwohl erst 49 Jahre alt: Andrea Nahles, Musterbeispiel einer knallharten Funktionärskarriere in der SPD, musste nach den Europawahlen erkennen: Die Welt, in der sie und ihre Politikerkollegen in der Berliner Blase leben, ist eine andere, als sie von den (jungen) Menschen erlebt wird. Nicht einmal jeder zehnte Jungwähler (18 bis 30 Jahre) hat die deutschen Sozialdemokraten gewählt. War man im letzten Jahrhundert stolzer Sozialdemokrat an Universitäten, an Schulen, in Ausbildungsstätten, am Fliessband, in den Büros und bei den kleinen Selbstständigen, so trifft man deren Wähler gerade noch auf Sozialämtern, in Funktionärsstuben und bei Hartz-IV-Empfängern. Man merke: Die digitale Welt bringt auch grosse Verbände ins Schlingern, wenn sie sich nicht rechtzeitig transformieren. Für die deutsche SPD ist es wohl zu spät.

Schrecklich für die deutsche Politik, dass auch die deutsche FDP, die jetzt gerade so wichtig wäre, von einem Anti-Umwelt-Aktivisten wie Christian Linder geführt wird, der mit wenigen Tweets – Anti-Greta, Anti-Klimaschutz, Anti-Schüler, Pro-Diesel – seine jungen Parteifreunde ins Abseits gestellt hat. Was für ein schrecklicher, isolierter, arroganter Typ, der seine Partei in Haftung nimmt. Auch bei ihm hilft eigentlich nur: abtreten.

Die Schweiz hat diesmal nicht mitgewählt. Aber auch hier sage ich: Wenn die etablierten Bundesratsparteien die Stimme der Generation Z nicht hören, dann wird die Generation Z die Uploads, die Podcasts, die Blogs, die Tweets, die Instas in die Berner Büros nachschicken. Und was die Politiker insbesondere übersehen: Die neue Jugend diskutiert wieder. Spricht wieder. Sendet wieder. Auch und vor allem mit ihrer Familie. Mit Mutter und Vater. Und besonders mit Grosi und Opi. Und so werden aus einer engagierten «Zler»-Stimme plötzlich fünf Wählerstimmen. Und die gehen dann nicht an die Plastiktüten-Politiker.



Manfred Klemann ist Serial Entrepreneur und einer der Pioniere des europäischen Internets (wetter.com). Er ist mit 20 Prozent an C-Films beteiligt, welches den «Zwingli»-Film produziert hat. Zudem ist er Miteigentümer des «persönlich»-Verlags.

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

 


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