Der legendäre Rosser Reeves war ein Regelbrecher, ein begnadeter Schreiberling, ein visionärer Geschäftsmann – und ein Querdenker unter den Kreativen in der amerikanischen Werbebranche der 1940er- und 1950er-Jahre.
Getrieben von seiner Definition von Werbung – «Werbung ist die Kunst, eine Unique Selling Proposition zu möglichst geringen Kosten in die Köpfe der meisten Menschen zu bringen» – begann er mit eigens entwickelten Theorien und tausenden von Konsumentenbefragungen, nicht die «Schönheit» oder die Kreativität, sondern die Effektivität von Werbekampagnen zu messen.
Kreativrankings waren ihm ein Graus – er war besessen davon, zu verstehen, warum die einen Kampagnen zu erhöhten Verkäufen führten und andere nicht. Sein 1961 verfasstes Manifest «Reality in Advertising» wurde zum internationalen Bestseller und gilt noch heute als einer der grössten Klassiker in der Werbeliteratur.
Aber nicht nur sein Buch wird heute weiterhin gelesen, auch ein gängiges Problem aus jener Zeit bleibt vielen CMOs erhalten: das mulmige Gefühl, dass die Hälfte ihrer Werbebudgets verlorenes Geld ist – sie aber nicht wissen, welche Hälfte.
Das Zeitalter der Daten beginnt, …
Die Effektivitätsmessung von Werbemassnahmen hat seit der Zeit von Rosser Reeves natürlich Quantensprünge gemacht. In den 1980er-Jahren begann sich Marketing Mix Modelling als Ansatz stärker zu verbreiten. Dieser Ansatz nutzt multivariate Regressionsanalysen, um für jeden Kanal statistische Zusammenhänge zwischen Mitteleinsatz und Werbeerfolg festzustellen. Die so berechneten Saturationskurven helfen, die Medienbudgets in die «richtigen» Kanäle zu leiten.
Das Gewinnen dieser Erkenntnisse war aber bis vor kurzer Zeit eine hoch manuelle Angelegenheit: Zwei Mal pro Jahr präsentierte da der Data Scientist den Marketers seine Analysen in einem detailliert ausgearbeiteten Papierbericht und sprach Empfehlungen für das nächste Halbjahr aus. Digitale Kanäle wurden erst mit viel Verspätung und oft nur halbherzig mitbetrachtet. Deshalb wurde der Beitrag der traditionellen Kanäle in diesen Analysen lange Zeit überbewertet. Ein weiteres Manko: Die Analysen arbeiteten «nur» mit aggregierten Daten. Der Ansatz wurde daher von vielen Marketers als langsam, teuer, wenig aktionsorientiert und altmodisch abgetan.
… wird durch bessere Analytik verfeinert …
Frustriert über die fehlende Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter schwenkten datengetriebene Marketer ihren Fokus vermehrt oder gar ausschliesslich auf die personengenaue Analyse digitaler Interaktionen. Unmengen von User-Attributen aus First- und Third-Party Cookies sowie anderen extern käuflichen Datensets befeuerten diesen Trend. Hinzu kamen einfach zugängliche Marketing-Analytics-Tools, die Auskunft darüber geben, welche der vielen Stationen eines Prospects im digitalen Marketing-Funnel angeblich zum Kauf geführt hat. Nur leider hatte auch dieses Vorgehen einen Haken: Die stark vereinfachten Attributionsansätze «first-click» oder «last-click» bildeten die ganze Komplexität einer individuellen Kaufentscheidung eines Prospects in keiner Weise ab.
So kam es zur nächsten Welle in der Messung der Marketingeffektivität: Multi-Touch Attribution. Hier wird eine grosse Zahl von individuellen Pfaden im digitalen Marketing-Funnel in Verbindung mit mathematischen Verfahren, wie wir sie aus dem Marketing Mix Modelling kennen, ausgewertet. Damit lässt sich der wahre Beitrag jedes einzelnen digitalen Touchpoints und die erfolgreichsten Verkettungen davon identifizieren.
Diese detaillierte Attribution über den digitalen Fussabdruck von uns allen ist aber hungrig nach Einzeluserdaten – je mehr davon, umso besser. Dem Datenhunger in der digitalen Welt vergeht jedoch nach und nach der Appetit: Die neuen Datenschutzrichtlinien führen schon heute dazu, dass viele User ein Tracking ihres Verhaltens auf Webseiten ablehnen. Und obwohl kürzlich von Google noch einmal verschoben, wird das Ende der Third-Party-Cookies 2024 wohl oder übel kommen. Gleichzeitig fahren die grossen digitalen Plattformen die Hecken ihrer «Walled Gardens» weiter hoch und die global wütende Inflation betrifft längst nicht nur Energiepreise, sondern hat auch die Medienpreise für TV, Social Media und Video-on-Demand in mehreren Ländern steigen lassen.
… und führt uns nun zurück in die Zukunft
Dieser perfekte Sturm im Datenparadies des heutigen Marketers führt aktuell zu einer Renaissance des Marketing Mix Modellings. Und dies nicht nur wegen bröselnder Cookies und zusätzlichen wirtschaftlichen Drucks auf Marketingbudgets – sondern, weil sich das Marketing Mix Modelling während seines Dornröschenschlafs zu einem mächtigen Instrument gemausert hat. Höchste Zeit also, sich wieder damit zu beschäftigen.
Was hat sich verändert?
Diese Entwicklungen machen die neue Generation des Marketing Mix Modelling zu einem attraktiven und effektiven Steuerungswerkzeug für Marketers; endlich können darüber Marketingbudgets und -pläne fast in Echtzeit und mit hohem Vertrauen optimiert werden. Kein Wunder also, dass der Ansatz gerade wieder ein Comeback feiert.
Das Beste aus beiden Welten
Fortschrittliche Marketer gehen heute aber sogar einen Schritt weiter: Neue Ansätze erlauben es, den Top-down-Ansatz des auf aggregierten Daten basierten Marketing Mix Modellings mit der personengenauen, Bottom-up-Multi-Touch-Attribution aus den digitalen Kanälen zu kombinieren. Ein übergreifendes Datenmanagement erlaubt es, eine «Attributionsbrücke» zwischen diesen beiden Welten zu schaffen und die besten Insights aus den zwei Perspektiven miteinander zu kombinieren.
Wichtig dabei: Es geht bei alldem nicht darum, dass Data Science die Kreativität im Marketing ersetzt. Im Gegenteil: Marketing bleibt eine Kunst und eine Wissenschaft zugleich. Der Einsatz von Kreativität muss aber so erfolgen, dass Werbung ihre Funktion erfüllt. Und die hatte Rosser Reeves vor 60 Jahren auch schon klipp und klar festgehalten: «Werbung ist lediglich ein Ersatz für einen persönlichen Aussendienst – eine Verlängerung, wenn man so will.»
Stellen Sie also sicher, dass sie das auch ist.
Thomas Ruck ist Managing Director bei Accenture Song.
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