28.07.2020

Sommerserie über Podcasts

Ein Podcast macht ein Theater

Wer hat den Krieg erfunden? Wie entstand das menschliche Wort? Was macht Reichtum aus? Mit solchen und ähnlichen grossen Fragen beschäftigt sich der Tessiner Gesprächs-Podcast «Radio Petruska».
Sommerserie über Podcasts: Ein Podcast macht ein Theater
Markus Zohner, Kuenstler, Schauspieler, Regisseur und Gruender der Theatergruppe «Markus Zohner Arts Company» im Ciani Park in Lugano am 26. Juni 2020. Im Ciani Park finden die kuenstlerischen Aktivitaeten des Long Lake Festivals am See statt und von dort aus wird der Podcast des Radio-Projektes «Radio Petruska» in Zusammenarbeit mit der Kuenstlervereinigung Petruska ausgestrahlt. (Collage: persoenlich.com, Bild: Keystone/Alessandro Crinari)

Von einem «virtuellen Radio» spricht Markus Zohner am liebsten. Auch wenn «Radio Petruska» rein technisch gesehen ein Podcast ist – der «erste unabhängige Kulturpodcast der italienischen Schweiz», wie die Macher auf der Homepage schreiben. Zohner sagt, er möchte Formate realisieren, die beim Lokalmatador Radiotelevisione Svizzera (RSI) undenkbar wären. «Wenn etwas auch bei RSI laufen könnte, dann ist es nichts für uns», sagt der Schauspieler und Regisseur bestimmt.

«Radio Petruska» soll die Tessiner Medienwelt ergänzen. «Ich wollte eine Plattform schaffen, in der man über alles reden kann.» Das mag für Deutschschweizer Ohren abgegriffen klingen – fürs Tessin ist es das nicht, denn im überwiegend katholischen Bergkanton würde man nach wie vor um manche Themen einen Bogen machen, erzählt Zohner. Einmal habe er in einem live gesendeten Radiointerview gesagt: «Wir wissen ja alle, dass es Gott nicht gibt», worauf ihm die Moderatorin beinahe das Mikrophon abgeschaltet habe. Auch Sexualität sei ein heisses Eisen. «Ich merke in Gesprächen immer wieder, dass eine latente Angst besteht, sich zu gewissen Themen zu äussern.»

«Dare e non prendere»

Auch die Podcast-Ausgabe «Microscopia sulla povertà in Ticino» befasst sich mit einem Thema, das oft vergessen geht: Eine Stunde und elf Minuten lang unterhält sich Markus Zohner mit dem Kapuzinermönch Fra Martino Dotta über Armut im Tessin. Es ist ein lebhaftes Gespräch, das dem Titel nicht immer ganz gerecht wird, da es sich bald einmal weg vom Tessin und in generelle philosophische Gefilde bewegt.

Trotzdem ist es ein Gespräch, das einem als Zuhörer stark in Erinnerung bleibt. Er wünsche sich, dass wir alle «mit eingeschalteten Antennen und offenen Augen durchs Leben gehen und uns nicht in unserer eigenen kleinen, wohligen Welt einschliessen», sagt Fra Martino. Nur so könne ein Austausch mit Menschen am Rande der Gesellschaft entstehen.

Der Kapuzinermönch hat sich nicht nur aufgrund seines Lebenswegs mit Armutsbetroffenen auseinandergesetzt, sondern auch, weil er sich lange im Projekt «Tischlein deck dich» engagierte – der «sozialen Mensa», wie es Dotta im Gespräch mit Markus Zohner nennt. An diesem Ort würden unterschiedliche Lebenswelten aufeinandertreffen, die sonst keine Berührungspunkte hätten. «Dare e non prendere», sagt Fra Martino Dotta schlicht auf die Frage, wie eine ideale Welt in seinen Augen aussähe: «Geben und nicht nehmen».

Eine Plattform für «freie Gespräche»

Markus Zohner ist ein lebhafter und authentischer Gastgeber. Immer mal wieder unterbricht der diskussionsfreudige Theatermann seine Gäste, was dem Hörgenuss keinen Abbruch tut – im Gegenteil: Es ist ein wenig, als sässe er mit seinem Diskussionspartner am Tisch nebenan in der Osteria, vielleicht bei einem Glas Merlot und einem Stück Käse.

In der Tat muss man lange suchen, bis man einen Tessiner Podcast findet, der nicht von RSI-Journalisten stammt. Italien und das Tessin hinkten in der Podcast-Entwicklung generell etwas hinterher, ist Zohner überzeugt. In den ersten Jahren hätten er und sein Team ständig erklären müssen, was ein Podcast ist und wo und wie man diesen hören kann. Einige Gespräche führte Zohner live mit Publikum in Lugano – und konnte dadurch eine kleine finanzielle Unterstützung durch die Stadt erwirken.

Abgesehen von solch einzelnen, projektgebunden Beiträgen ist «Radio Petruska» eigenfinanziert – ein «rein enthusiastisches Projekt», wie Markus Zohner sagt. Der ungewöhnliche Name stehe für die Verbindung der Theatertruppe zu Russland. Zudem sei die «Petruska» eine sehr interessante Figur, eine Art russische Pulcinella. Hin und wieder taucht dieser «russische Kaspar» beim Einstieg in den Podcast auf: Mal als hexenartige Frau, dann wieder als Mann. Und immer mit einer grossen Prise Schalk in der Stimme.

Das Tessin als Rückzugsort

Ins Tessin kam der in München geborene Markus Zohner 1984, um sich an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio ausbilden zu lassen. Der 57-Jährige erinnert sich noch gut an die Zeit an der noch jungen Schauspielschule. Das Tessin bezeichnet Zohner als «wunderbaren Ort, um sich nach den Gastspielreisen in aller Welt zurückzuziehen, sich wieder zu konzentrieren, Neues zu kreieren, um dann wieder aufzubrechen in die Weite der Welt».

Neben Theaterprojekten realisiert Zohner auch immer wieder längere Audioinhalte, etwa in einer Serie mit Gefängnisinsassen, die er während eines halben Jahres einmal wöchentlich interviewte. Kein Spagat, sondern eine naheliegende Kombination, findet Zohner: «Podcast-Machen ist verwandt mit der Theaterarbeit. Bei beidem spielen wir mit der Vorstellungswelt des Gegenübers.» Sowohl auf der Bühne als auch in den Podcasts würden innere Bilder durch Worte kreiert. Gerne überschreitet Zohner auch gängige Mediengrenzen, so etwa beim Projekt «Radio Frankenstein», das er mit seiner Truppe 2017 bis 2019 für das Joint Research Centre der Europäischen Kommission kreierte. Aus «Radio Frankenstein», mit dem Zohners Gruppe Radioelemente auf die Bühne brachte, soll nun ein Hörspiel entstehen.

Von heiter bis ernst

Sowohl in den Podcasts als auch im Gespräch mit dem Macher taucht immer wieder das Thema «Freiheit» auf. Nicht nur bei der Wahl der Themen ist sie eine Art roter Faden, sondern in der Produktion: «Unser Podcast dauert so lange, wie ein Gespräch Freude bereitet.» Zeitliche Beschränkung gibt es keine. «Das wäre beim Radio definitiv nicht möglich», resümiert Zohner.

In vielen Gesprächen verschwimmt Zohner, der Gastgeber, mit Zohner, der Privatperson. Im Podcast über Armut im Tessin hören wir nicht nur Ansätze der Lebensgeschichte des Mönchs Frau Martino, der als eines von sechs Kindern auf einem Bauernhof ob Lugano aufgewachsen ist, sondern erhalten auch Einblick in Zohners Lebens- und Denkwelt. Als dieser sich vor gut zehn Jahren zu Fuss von Venedig nach St. Petersburg aufmachte, sei die Erfahrung, kaum etwas im Rucksack zu haben, unglaublich befreiend gewesen. «Besitz bindet uns», ist Zohner überzeugt. Befreie man sich – auch nur temporär – von diesem, würde viel Energie freigesetzt.

Obwohl die Leitfragen in den Podcast-Folgen oft hochphilosophisch sind, verliert der Gesprächsleiter die Bodenhaftung nicht. Und weiss sein Gegenüber auch immer wieder mit ganz pragmatischen Fragen aus der Reserve zu locken. «Sind Sie reich?», fragt der Theatermacher Fra Martino einmal ganz unvermittelt. Als dieser mit «Ja, auch auf materieller Ebene bin ich reich, denn wir besitzen mehrere Häuser im Tessin», antwortet, sind nicht nur die Hörer überrascht, sondern auch Zohner selbst.



Diese Sommerserie über Podcasts wurde von Keystone-SDA realisiert. Sie ist mit finanzieller Unterstützung aus dem Kredit «Verständigungsmassnahmen» des Bundesamtes für Kultur zustande gekommen. Autorin dieser Folge ist Eva Pfirter.

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Alle bisherigen Ausgaben der Serie finden Sie hier.



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