David Schärer, wer am Donnerstag die Weltwoche aufschlägt, dürfte vielleicht leer schlucken. Da steht in weissen Lettern auf rotem Grund: «Islam in den Nationalrat». Die Auflösung folgt beim Umblättern …
Genau, dort ist das Kampagnensujet des Zürcher Nationalratskandidaten Islam Alijaj zu sehen, der mit dem Slogan «Geschichte schreiben» für seinen Einzug in den Nationalrat wirbt.
Provozieren Sie gerne?
Das kommt darauf an. Provokation darf nie Selbstzweck sein, sie ist ein rhetorisches Mittel – aber sie sollte immer aus einer inhaltlichen Substanz schöpfen.
Würde diese Kampagne auch in anderen Medien funktionieren oder ist sie für die Weltwoche massgeschneidert?
Prinzipiell würde sie überall funktionieren. Aber klar ist, dass die Pointe besonders gut in die Weltwoche passt.
«Ich mache transparent, dass ich das Inserat ermöglicht habe»
Im Inserat steht im Kleingedruckten, dass dieses von Ihnen ermöglicht wird. Laut Tarifdokumentation der Weltwoche kosten die beiden halbseitigen Anzeigen auf zwei aufeinanderfolgenden Seiten brutto rund 25'000 Franken. Wie viel haben Sie bezahlt?
Das kommentiere ich nicht. Ich mache transparent, dass ich das Inserat ermöglicht habe. Islam weist meine Zuwendung als Sachspende auf seiner Homepage aus.
Hatten Sie nie Angst, dass das Inserat noch gestoppt werden könnte? Oder nutzten Sie als Weltwoche-Kolumnist Ihren privilegierten Zugang?
Man kann von der Weltwoche halten, was man will. Aber man hat mir dort nie, weder als Kolumnist noch als Inserent, Steine in den Weg gelegt. Einige erinnern sich vielleicht noch an das Coca-Cola-Manifest in Regenbogenfarben, das wir auf dem Titel umsetzen konnten. Insofern war ich diesbezüglich sehr entspannt.
Islam Alijaj ist kein Unbekannter: Der Behindertenrechtsaktivist ist seit letztem Jahr Zürcher Gemeinderat. Seine Wahl ist bemerkenswert …
Das kann man wohl sagen. Er wurde trotz eines aussichtslosen Listenplatzes, seiner Behinderungen und seines Migrationshintergrundes sensationell mit zwei Stimmen Vorsprung gewählt. Und wer ihn kennenlernt, merkt auch rasch warum: Mit seinem Charme, seinem Ehrgeiz und seinem Mut ist Islam als Mensch und Politiker eine Klasse für sich. Seine Geschichte, die er jetzt auch in Buchform veröffentlicht hat, hat mich sehr beeindruckt.
Und nun soll Alijaj in den Nationalrat. Auf der SP-Liste wird Islam Alijaj auf dem elften Platz gelistet. Keine einfache Ausgangslage …
Der Listenplatz ist eine Herausforderung, aber das kann eine gute Kampagne regeln. Doch ich glaube, die meisten von uns können sich kaum vorstellen, was es bedeutet, unter Islams Bedingungen einen Wahlkampf zu führen. Er sitzt im Rollstuhl und kann kaum sprechen. Vor allem die Sprache ist ja eigentlich eines der wichtigsten Mittel von Politikerinnen und Politikern in Wahlkampagnen. Deshalb muss Islam unglaublich kreativ sein und auch ungewöhnliche Wege gehen, um wahrgenommen zu werden.
«Heute ist Islam einer der profiliertesten Behindertenrechtsaktivisten der Schweiz»
Es ist dies bereits Alijajs zweiter Anlauf. Warum klappte es vor vier Jahren nicht?
Vor vier Jahren hatte Islam einen aussichtslosen Listenplatz und war einem breiteren Publikum kaum bekannt. Heute ist er einer der profiliertesten Behindertenrechtsaktivisten der Schweiz und hat als Kopf und Mitinitiator der Inklusionsinitiative so etwas wie eine nationale Behindertenbewegung aufgebaut. 2019 wurde er noch rund 8000-mal von der Liste gestrichen. 2023 wünsche ich ihm ein anderes Ergebnis.
Dass sein Name 8000-mal gestrichen wurde, führen Sie allein auf seinen Vornamen und nicht auch auf seinen Nachnamen zurück?
Wahlergebnisse lassen sich nie an einem einzigen Faktor festmachen. Richtig ist: Wir leben in einem Land mit Minarettverbot. Und erst vergangene Woche hat die stärkste politische Kraft der Schweiz betende Soldaten muslimischen Glaubens in die Nähe von Kinderehen und Steinigungen gerückt. Da ist der Vorname Islam auf dem Wahlzettel sicher kein Vorteil. Aus Kommunikationssicht heisst das: Er muss dieses Problem bewirtschaften und es zu seiner Stärke machen. Was wir hier machen, ist eine Diskussion über Stereotype zu lancieren. Hiesse Islam nicht Islam, sondern Reto, würden wir diese Diskussion nicht führen.
Seine Cerebralparese, deren Folgen für den zweifachen Familienvater ein Leben im Rollstuhl und eine schwere Sprechbehinderung bedeuten, spielten damals auf dem Wahlzettel nicht auch eine Rolle?
Vielleicht nicht unbedingt auf dem Wahlzettel, aber wir müssen uns als Gesellschaft schon fragen, warum die Gruppe der Menschen mit Behinderungen, die immerhin 22 Prozent der Bevölkerung ausmacht, politisch so dramatisch unterrepräsentiert ist. Die SP beispielsweise versteht sich als die Inklusionspartei, hatte aber noch nie eine Nationalrätin oder einen Nationalrat mit Behinderungen im Parlament. Das darf so nicht bleiben.
Pro Infirmis will mehr Menschen mit Behinderung ins Parlament bringen (persoenlich.com berichtete). Warum braucht es im Parlament mehr Diversität?
Zum einen bin ich davon überzeugt, dass diverse Teams bessere Ergebnisse erzielen. Zum anderen ist es ja geradezu die Idee des Parlamentarismus, die Gesellschaft in allen Facetten abzubilden und bestmöglich zu vertreten. Und das ist mit Blick auf die Gruppe der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz bis heute nicht der Fall.
«Die Unterstützung von Islam ist mein privates Engagement»
Für Pro Infirmis setzte Jung von Matt Limmat die Kampagne «Gewöhn dich dran» um. Nun, da Sie nicht mehr bei Rod arbeiten, können Sie ja die Kampagne beurteilen. Wird das Ziel erreicht?
Da muss ich sie enttäuschen. Ich werde mich auch künftig nicht wertend zur Arbeit von Kolleginnen und Kollegen einlassen.
Die Wahlkampagne für die SP kommt ja eigentlich von BrinkertLück. Rod Kommunikation hat für die Grünliberalen gearbeitet. Warum engagieren Sie sich persönlich für Islam Alijaj?
Die Unterstützung von Islam ist mein privates Engagement. Ich tue das, weil ich ihn als Politiker und Mensch sehr beeindruckend finde. Und weil seine Wahl symbolisch im besten Sinne für eine Schweiz stünde, in der alle, ungeachtet ihrer Startbedingungen, etwas aus ihrem Leben machen können.
Hat er Sie für das Inserat angefragt – oder Sie ihn? Das ist die Huhn-oder-Ei-Frage.
Das Inserat in der Weltwoche war meine Idee. Das Sujet basiert auf Islams Nationalratswahlkampagne.
Was möchten Sie mit der Kampagne erreichen? Nur Alijajs Wahl – oder gar eine Debatte?
Die Debatte ist das Mittel zum Zweck. Aber richtig ist: Das Inserat trägt die Diskussion über die Stereotype in unserer Gesellschaft dorthin, wo sie hingehört. Das Medium ist hier auch die Botschaft.
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06.07.2023 12:34 Uhr