Armut ist oft nicht sichtbar, aber doch allgegenwärtig: 1,34 Millionen Menschen gelten in der Schweiz laut Caritas Schweiz als armutsgefährdet. Auch die Mittelschicht kommt finanziell stärker unter Druck. Mehr als die Hälfte der Familien in der Schweiz geben an, dass ihr Einkommen für das gemeinsame Familienleben nur knapp reicht. Sie machen Abstriche bei Ferien, in der Freizeit, ja gar bei der Familienplanung. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Pro Familia Schweiz und Pax, die im März dieses Jahres veröffentlicht worden ist.
Seit dem Jahr 2021 misst das Bundesamt für Statistik (BfS) auch die materielle und soziale Deprivation in der Schweiz. Und damit den Anteil an Personen, die aus finanziellen Gründen nicht nur auf wichtige Güter und Dienstleistungen verzichten müssen, wie beispielsweise Kleider zu ersetzen oder die Wohnung ausreichend zu heizen, sondern auch auf soziale Aktivitäten. Rund jeder Zehnte kann sich gemäss den Zahlen des BfS regelmässige kostenpflichtige Freizeitaktivitäten – wie Kino, Fitness oder einen Konzertbesuch – nicht leisten. Dadurch fehlen Möglichkeiten, das eigene soziale Netz zu pflegen und sich der Gesellschaft zugehörig zu fühlen.
Das Migros-Kulturprozent setzt sich seit jeher dafür ein, dass alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Indem es beispielsweise die Klubschulen finanziell unterstützt, damit Bildung allen offensteht. Oder mit diversen Projekten Menschen zusammenbringt. Wie beispielsweise mit Tavolata, den Tischgemeinschaften für Senior*innen. Oder den Netzwerken «Erzählcafé» oder «Caring Communities». Oder dem Projekt «Tandem im Museum». Bei allen den Projekten geht es darum, Erfahrungen, Wissen oder Geschichten auszutauschen.
Das Migros-Kulturprozent hat diese Projekte ins Leben gerufen und finanziert. Dann wurden sie in die Eigenständigkeit überführt. Jessica Schnelle, Leiterin Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund: «Unsere Teilhabe-Projekte sollen auch die Selbstwirksamkeit der Menschen stärken. Das heisst: sie darin bestärken, dass sie selbst etwas bewegen und auch Herausforderungen bewältigen können.»
Mit der Unterstützung von Angeboten für junge Menschen, die von Armut betroffen sind, betritt das Kulturprozent nun Neuland. «Kinder und Jugendliche, die in Armut leben, sind öfters sozial ausgegrenzt. Und ihnen ist vielleicht nicht bewusst, dass sie ein Recht haben auf Schutz, Förderung und eine gute Entwicklung», sagt Jessica Schnelle. Junge Menschen sollten nicht das Gefühl haben, «mich vermisst keiner», sondern eine Anspruchshaltung entwickeln. «Dafür ist es zentral, dass Angebote und Räume bestehen, in denen die Stimmen und Interessen dieser Jugendlichen gehört und ernst genommen werden», so Schnelle. Könnten junge Menschen ihren Platz in der Gesellschaft dank eines Hobbys oder ihrem Netzwerk finden, sei das eine nachhaltige Investition in ihre Zukunft.
Bei der Ausschreibung «Rein ins Leben!» werden Vorhaben gesucht, die gemeinnützige Organisationen mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen gemeinsam auf die Beine stellen (Details siehe Box). «Wir wünschen uns Projekte, welche Fachpersonen und freiwillig Engagierte mit den jungen Menschen auf Augenhöhe entwickeln», sagt Jessica Schnelle. Ob Jugendtreff, Mentoring-Angebot, Podcast-Projekt oder Peer-Beratung: vieles sei möglich. Besonders gespannt ist sie auf Ideen, wie man armutsbetroffene junge Menschen besser einbeziehen kann, die zurückgezogen leben. Weil sie beispielsweise zuhause auf jüngere Geschwister aufpassen müssen und ihnen wenig Zeit bleibt, die eigenen Interessen zu entfalten.
Dass die Organisationen nicht über die jungen Menschen entscheiden, sondern mit ihnen, wird bei der Auswahl der Projekte entscheidend sein. Jessica Schnelle verweist auf den Bericht der Organisation ATD Vierte Welt über Armut, der gemeinsam mit Armutsbetroffenen verfasst worden ist. In diesem Geiste sei auch die Ausschreibung «Rein ins Leben!» angedacht. Da ein partizipativer Ansatz mehr Zeit und Ressourcen brauche, will das Kulturprozent Organisationen auf diesem Weg bestärken und finanziell unterstützen.
Weshalb macht das die Migros? «Es liegt in der DNA der Migros», sagt Jessica Schnelle. Gottlieb Duttweiler war der Meinung, dass es einer Firma nur so gut gehen kann, wie es der Gesellschaft als Ganzes geht. Schon in den Thesen, die Gottlieb und seine Frau Adele Duttweiler 1950 formuliert haben, steht: «Wir müssen wachsender eigener materieller Macht stets noch grössere soziale und kulturelle Leistungen zur Seite stellen.» Das gelte auch noch heute.
Und so wünschen sich Jessica Schnelle und ihr Team ganz viele Ideen, die jungen Menschen dabei helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Statt sich zurückzuziehen, sollten sie in Kontakt mit anderen kommen. Statt zu denken, die Welt habe nicht auf sie gewartet, sollten sie finden: «Hallo Welt, hier bin ich.»
Ausschreibung «Rein ins Leben!»
Die Ausschreibung «Rein ins Leben!» ist offen für vielfältige Projekte und Angebote, die Freiräume und Chancen schaffen – für und mit jungen Menschen in der Schweiz. Gemeinnützige Organisationen können bis zum 6. September 2024 eine Förderung in der Höhe von 3’000 bis 30’000 Franken beantragen. Es werden insbesondere Projekte und Angebote unterstützt, die sich an finanziell benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene richten oder diese besser erreichen möchten. Ein Gesuch einreichen können gemeinnützige Organisationen, wie Vereine, Genossenschaften, Stiftungen oder Stellen der öffentlichen Hand zusammen mit gemeinnützigen Organisationen.
https://engagement.migros.ch/reininsleben