Daniel Suter, kürzlich haben Sie als Präsident der Personalkommission die Demonstration der "Tages-Anzeiger"-Redaktion organisiert. Das kommt nicht alle Tage vor, dass Journalisten demonstrieren.
Journalisten demonstrieren nur in Notsituationen. Die letzte Journalisten-Demo, an die ich mich erinnern kann, war im Herbst 1991, als "Tagi"-Chefredaktor Viktor Schlumpf vom Verwaltungsrat abgesetzt wurde. Er hatte sich geweigert, kritische Journalisten zu entfernen. Seine Absetzung war eine Disziplinierungsmassnahme.
Zwei Tage nach der Demonstration wurden Sie entlassen. Auch eine Disziplinierung?
Sie hat sicher auch diesen Aspekt. Klar ist: Ich bin wütend. Die Art und Weise, wie die Massenentlassung vollzogen wurde, entspricht nicht meiner Vorstellung von Gerechtigkeit.
Wie wurde sie vollzogen?
Das Mai-Massaker, wie wir es auf der Redaktion nennen, die Entlassung von 52 Angestellten, wurde auf Ressortebene delegiert, also auf die tiefstmögliche Hierarchiestufe. Nicht der Chefredaktor stand hin, sondern der Ressort- oder Teamleiter. Er bat einen per E-Mail ins Personalbüro und bedauerte dann, die Kündigung aussprechen zu müssen. Ich habe 22 Jahre beim "Tages-Anzeiger" gearbeitet. Es gab kein Wort des Dankes, kein Wort, dass man gut gearbeitet habe. Mein Teamleiter dachte, da ich im August sechzig werde, hätte ich angenehme Bedingungen für eine Frühpensionierung. Tatsache ist, dass die Kündigung mit Entlassung angeschrieben ist.
Wie jetzt? Entlassung oder Frühpensionierung?
Gesagt wurde Frühpensionierung, geschrieben wurde Entlassung. Auch jene, die älter sind als ich, haben die blanke Entlassung erhalten mit dem vagen Hinweis, dass in den Sozialplanverhandlungen, die nächsten Dienstag anlaufen, vielleicht etwas herausspringt. Nach der Berechnung der Tamedia wäre meine aktuelle Altersrente monatlich 2596 Franken. Das ist einfach zu wenig.
Was nun?
Mein erster Fokus liegt auf den Sozialplanverhandlungen. Dabei wird sich zeigen, ob man Verwaltungsratspräsident Pietro Supino und Chefredaktor Res Strehle beim Wort nehmen kann. Sie sagten, es werde einen fairen Sozialplan geben. Am Montag findet eine Redaktionsversammlung statt. Die Chefredaktion möchte aber möglicherweise schon diese Woche die Redaktion um sich versammeln. Wohl, um vorwärts zu schauen. Der schlechte Witz an der Entlassungswelle ist: Sie wird wirtschaftlich begründet, doch Zahlen werden nicht offengelegt. Es ist klar, dass ein Stellenabbau in diesem Umfang nicht nötig gewesen wäre. Die Tamedia hätte das Geld gehabt, den Abbau abzufedern. Sie zahlte den Aktionären Mitte Mai 32 Millionen Franken Dividenden aus. Bis 2011 lässt sie durch den Stararchitekten Shigeru Ban einen fünfstöckigen Neubau errichten. Dieser allein kostet einige Dutzend Millionen Franken.
Aber dem "Tagi" gehe es trotz all den ausgeschütteten Millionen sehr schlecht.
Was niemand sagt, ist: Der "Tages-Anzeiger" wurde 1893 gegründet. Er hat 116 Jahre, bis und mit 2008, Gewinne eingebracht. Das Tamedia-Imperium, das rundherum entstanden ist, wuchs aus der Wurzel "Tages-Anzeiger", es wurde in erster Linie mit den "Tagi"-Gewinnen zusammengekauft. Klar, die Anzeigenflaute wird andauern. Klar, es gibt einen Strukturwandel, der einen Stellenabbau unvermeidlich macht. Aber doch nicht so! Jetzt, wo der "Tagi" das erste Mal in seiner über hundertjährigen Geschichte rote Zahlen schreibt, tun die Verantwortlichen so, als stünde der "Tagi" alleine in der Wüste und drohe zu verdursten. Und darum müssten mit der Kettensäge die Äste abgeschnitten werden.
Wie ist die Stimmung auf der Redaktion?
Der Unterschied zwischen jenen, die entlassen werden, und jenen, die bleiben dürfen, ist nicht so gross. Die Erfahrung ist ein Schock. Die Stimmung ist eher depressiv.
22 Jahre "Tagi". Was hat sich verändert?
Ich kann Ihnen sagen, was sich nicht verändert hat: der mentale Graben zwischen Verlag und Redaktion. Bereits der erste Martin Kall, den ich erlebte, ein Mann namens Heinrich Hächler, fand, die Redaktion sei eine arrogante Bande, ein Haufen Besserwisser. Man kann aber nicht von Journalisten erwarten, dass sie dem Bundesrat auf die Finger schauen, nicht jedoch den eigenen Chefs. Es ist übrigens sehr viel leichter, den Bundesrat zu kritisieren als das eigene Management.
(Interview: Daniel Ryser/WOZ)