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30.01.2020

DOK

Heute schon onaniert?

Eine 91-Jährige fordert die Schweizer auf, häufiger zu masturbieren. Und das auf SRF zur besten Sendezeit.
von René Hildbrand

«Schweizerinnen und Schweizer, ich sage Euch laut und klar: Onanieren Sie. Das ist besser, als den ganzen Tag frustriert zu sein!» Dieser Aufruf kommt von der deutsch-amerikanischen Soziologin und Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer. Zu hören war er am Donnerstag im «DOK» mit dem Titel «Sexuelle Aufklärung – Einst und heute». Ein lustvoller und sehenswerter Film von Andrea Pfalzgraf, mit einigen Archiv-Glanzstückchen aus den letzten 50 Jahren.

Westheimer ist die Sexberaterin schlechthin. Die Deutsch-Amerikanerin hat über 450 TV-Sendungen («Ask Dr. Ruth») mit Millionenpublikum gestaltet und reihenweise Bücher zu dem Thema geschrieben. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges verbrachte sie übrigens in einem Kinderheim in Heiden AR. Ihre Eltern wurden im KZ ermordet.

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Noch nie war das Aufklärungsangebot für Kinder, Jugendliche, aber auch für Erwachsene so gross. Trotzdem ist durchweg eine Unsicherheit geblieben. «Sexuelle Bildung ist noch immer eine Notwendigkeit», sagt Blick-Sexberaterin Caroline Fux. Und: «Das grosse Tabu ist heute die Lust.» Die Psychologin kommt in dem Film ebenso ausführlich zu Wort wie Ruth Westheimer. Ein Wiedersehen gibt es mit Fux’ Vor-Vorgängerin, der vor 20 Jahren verstorbenen aber unvergessenen Marta Emmenegger. Ich habe diese Frau und langjährige Büronachbarin wegen ihrer Menschlichkeit und ihrem Humor hochgeschätzt.

Aufklärungsgespräche sind nach wie vor sehr anspruchsvoll. Halb- und Falschwissen können verheerend sein. Doch manche Schweizer Jugendliche sagen im SRF-Film: «Aufklärung ist peinlich.» Die Heranwachsenden suchen ihre Antworten heute im Internet. Viele von ihnen haben schon Pornos gesehen, bevor sie erste sexuelle Erfahrungen machen. Westheimer: «Wenn in diesen Filmen gezeigt wird, dass eine Frau einen zehnminütigen Orgasmus haben kann oder ein Mann während zehn Stunden eine Erektion, ist das Quatsch!»

Als früher Eltern ihre Kinder aufklären sollten, wussten die meisten selbst nicht Bescheid. Oder es fehlte ihnen das Vokabular. In einer Rekrutenbefragung 1971 erklärten drei von fünf Zwanzigjährigen, dass sie nicht aufgeklärt worden sind. Mehr als eine Generation hatte sich das Basiswissen für Sex mit der deutschen Jugendzeitschrift Bravo («Dr. Sommer») angeeignet. Diese galt bis 1972 als «jugendgefährdend». Ich erinnere mich, wie wir die Bravo verstohlen mit dem Sackgeld am Kiosk kauften (für 70 Rappen) und sie danach zuhause im Zimmer versteckten. En passant: Bravo wurde 1956 vom Journalisten Peter Boenisch und vom Verleger Helmut Kindler gegründet. Dieser erfand drei Jahre später auch den Blick und lebte bis zu seinem Tod vor elf Jahren in Küsnacht. Boenisch wurde Chefredaktor von Bild und Bild am Sonntag, später Sprecher von Bundeskanzler Helmut Kohl. Bis zu Beginn der 1990er-Jahre wurden von der Bravo noch wöchentlich 1,6 Millionen Exemplare verkauft. Heute ist die Zeitschrift ein Sorgenkind des Bauer-Verlags. Bravo erscheint seit Januar monatlich. Und das in einer Auflage von nur noch 60`000 Exemplaren.

Zurück zum SRF-Aufklärungs-Film: Dieser zeichnet nach, was und wie viel sich mit der «sexuellen Revolution» 1968 geändert hat. Wesentlich daran beteiligt war neben Ruth Westheimer der deutsch-niederländische Autor und Filmproduzent Oswalt Kolle. Die beiden sprachen die Begriffe Orgasmus oder Vagina öffentlich aus – und wurden dafür heftig kritisiert. Die Zürcher waren anfangs noch hinterwäldlerisch: Kolles erster, heute erheiternd-harmlos anmutende Film «Das Wunder der Liebe» (1968) wurde im ganzen Kanton verboten. Aus «moralischen Gründen». Ein Zensor: «Herr Kolle, Sie wollen die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen.» Im Aargau war der Aufklärungsfilm erlaubt. Ich entsinne mich, wie damals Busunternehmen aus der Limmatstadt (ausgebuchte) Spezialfahrten zu Kinos im Nachbarkanton arrangierten – selbst ins stockkatholische Freiamt. Der Erfolg von Oswalt Kolle war nicht aufzuhalten: Weltweit haben über 140 Millionen Menschen seine neun Filme gesehen. Die meisten seiner gegen 20 Bücher wurden Bestseller.

1971 wurde das Pornografie-Verbot in der Schweiz aufgehoben. Nur wenige Wochen später öffnete der erste Sexshop im Land. Fortschrittliche Lehrer, vor allem in Städten, bauten in ihren Unterricht ein Sexualaufklärung ein, die den Namen einigermassen verdiente. Doch diese ist in den Schulen, so die SRF-Dokumentation, ein schwieriges und emotional aufgeladenes Thema geblieben.


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