15.07.2013

GDI

"Anzeigen werden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden"

Verlage und Anzeigen soll es bald nicht mehr gehen, und künftig werden Journalisten nicht mehr fürs Schreiben bezahlt, sondern für Vorträge, Beratungen und Bücher. Diese kühnen Prophezeiungen stammen von Detlef Gürtler. Er ist seit 2008 beim von Migros-Kulturprozent mitfinanzierten Gottlieb Duttweiler Institut als Chefredaktor des Magazins "GDI Impuls" tätig. Für seine neuste Magazin-Ausgabe beschäftigte er sich intensiv mit der Zukunft der Medien. Im Interview fordert der Wirtschaftspublizist "Leitprognosen" statt Leitartikel und eine "Kultur-Flatrate" statt der neuen Mediengebühr.
GDI: "Anzeigen werden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden"

Herr Gürtler, "die Botschaft ist wieder die Botschaft", schrieben Sie im Hauptartikel des aktuellen GDI-Impuls. Dass Marshall McLuhans berühmter Satz "The Medium is the Message" ausgedient hat, ist nichts Neues.
Neu ist, dass nicht nur der Satz, sondern auch dessen Subjekt ausgedient hat – das Medium. McLuhan haben wir es zu verdanken, dass Leute, die mit Kanälen arbeiten, ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Das war früher so: Wer wenig an Botschaften angeboten hat, konnte trotzdem das Gefühl haben, etwas mit Medien machen. Dieser Ansatz ist nun fast 50 Jahre alt und veraltet, doch damals war er legitim. In der Zwischenzeit hat sich einiges geändert. Ich bin sicher: Der Begriff 'Medien’ – als Beschreibung für eine zusammengehörende Branche – wird verschwinden. Wichtiger werden die Inhalte.

Können Sie sich bei der Interpretation des Strukturwandels an anderen Branchen orientieren?
Ja, an Öl und Wasser. In der Ölindustrie sind Pipelines wichtig und die Raffinerie ist sehr entscheidend. Alles Material muss durch diese zentrale Stelle. Von dort geht es dann weiter. Diese Raffinerien sind vergleichbar mit Verlagen, denn sie haben einen ähnlichen Zweck. War bis anhin ein Verlag für die Weiterverbreitung von Inhalten zwingend nötig, ist die heute nicht mehr so. Die Verlage verschwinden. Die Medienbranche lässt sich heute also nicht mehr mit der Ölbranche vergleichen, sondern eher mit der Wasser-Industrie. Jeder kann daran teilnehmen. Einerseits kann jeder Einzelne eine Regentonne im Garten aufstellen und damit das eigene Wasser gewinnen. Andererseits gibt es riesige Konzerne, wie z.B. Néstle, die das Geschäft mit dem Wasser professionalisiert haben. In der Wasserindustrie ist also vieles möglich. Doch sie definiert sich nicht über die Qualität der Leitungen, sondern über die Qualität des Produkts. Dieses Beispiel illustriert die Situation, in welche die Medien ebenfalls hineinkommen werden.

Wenn Verlage verschwinden, welche Akteure treten dann in den Vordergrund? Einzelne Titel? Redaktionen oder einzelne Journalisten?
Es hängt an Redaktionen und nicht an den Verlagen zu definieren, wofür ein Produkt steht. Der Leser muss wissen, wofür eine Marke steht.

Verlage braucht es also nicht mehr.
Nur noch für die Verpackung. Und zu einem kleinen Teil für den Anzeigenverkauf. Doch auch Anzeigen werden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden.

Wie lassen sich Redaktionen finanzieren, wenn nicht mehr über Anzeigen?
Sicher werden die Produktionskosten viel günstiger, wenn die Beträge für Marketing und Distribution wegfallen. Wenn es die direkte Verbindung zwischen dem Autor und dem Leser gibt, dann lassen sich die Produktionskosten sehr tief halten.

Doch Abo-Einnahmen entsprechen nicht einmal ganz der Hälfte der Gesamteinnahmen. Mehrheitlich stammen die Einnahmen immer noch aus Werbung (vgl. Abb. unten). Hier geht Ihre Rechnung nicht auf.
Die Umsätze werden zurückgehen, ebenso die Quantität der Inhalte, die dargeboten werden. Schliesslich landen wir wieder beim Geschichten-Erzähler. Künftig wird entscheidend sein, wer die besten Botschaften, die besten Geschichten zu erzählen hat. Die Erlösmodelle werden sich dem angleichen, was wir heute in der Strassenkunst sehen. Wenn ein guter Zauberkünstler die Zuschauer begeistert und plötzlich mitten drin innehält und um Geld bittet, bevor er weiterzaubert, dann könnte dies ein Vorbildmodell sein.

1783 vs. 1616 Mio: Im Bereich Presse sind die Einnahmen aus Werbung noch immer leicht höher als die Einnahmen von Mediennutzern. (Quelle: Studie Medienbudget 2012)

Solche Erlösmodelle wurden ja schon eingeführt, etwa von Bild mit BildPlus oder NZZ. Mit mässigem Erfolg – gelinde gesagt.
Genau. Und bei der Welt-Gruppe gibt es ein ähnliches Modell, bei dem man 20 Texte gratis lesen kann, bevor man zahlen muss. Es experimentieren alle momentan damit. Die Bestrebung, Neues auszuprobieren, ist löblich. Ob dieses Modell funktioniert, weiss ich nicht. Mir wäre eine Finanzierung ähnlich wie Flattr oder die Kultur-Flatrate lieber.

Eine Kultur-Flatrate?
Es wäre denkbar, die Billag-Gebühren – oder die neue Mediengebühr – auf alle Kulturbereiche auszuweiten. Konkret bedeutet das, dass jeder Schweizer Bürger über einen Teil der Mediengebühren selber verfügt und bestimmt, wem sie zukommen sollen. Jeder Nutzer könnte monatlich Medienangeboten, die ihm besonders hilfreich schienen, eine gewisse Anzahl Punkte vergeben. Erst wenn Leute genau bestimmen können, welche Medienangebote sie unterstützen wollen, werden sich Inhalte im Netz finanzieren lassen.

Wie müssen sich Journalisten auf diese Entwicklungen einstellen?
Es gibt die Möglichkeit, eine eigene Marke aufzubauen. Der Name eines Journalisten muss für etwas stehen – für gewisse Themen, Spezialgebiete oder eine bestimmte Arbeitsweise zum Beispiel. Journalisten müssen sich aber daran gewöhnen, dass sie nicht mehr für das Texte schreiben bezahlt werden, sondern – ähnlich, wie wir es aus der Musikbranche kennen – für Auftritte an Podien, für Beratungen, Moderationen, Vorträge, Coachings, Bücher, Seminare und so weiter. Auch Journalisten werden künftig nicht mehr für das Kopierbare bezahlt, sondern fürs Originale.

Können Sie Beispiele nennen von solchen Journalisten-Marken?
Der mit Abstand beste war bzw. ist sicherlich Marcel Reich-Ranicki. Zudem fiele mir mein Journalismus-Lehrer Wolf Schneider ein – Sprachpapst mit preussischer Disziplin. Als ich vor 25 Jahren bei ihm an der Hamburger Henri-Nannen-Schule meine Ausbildung begann, nannten wir uns "Nannen-Schüler". Heute bin ich stolz, ein Schneider-Schüler zu sein.

Ein Beispiel für eine alternative Finanzierungsform wäre die "Huffington Post".
Ja, obwohl dort das Modell etwas zynisch ist. Wer für die "Huffington Post" schreibt, wird dafür nicht bezahlt, sondern bekommt nur die Plattform um sich einen Namen zu machen. Doch der Ansatz ist wichtig: Dadurch, dass man schreibt, kann man sich einen Namen machen, der in anderen Situationen viel wert sein kann. Die meisten Journalisten jammern derzeit. Sie haben das Gefühl, dass sie in einer miserablen Situation sind, weil ihnen die Verlage, die Medien und die Einnahmen wegbrechen. Dabei eröffnen sich ihnen doch - anders als zum Beispiel den Druckern oder den Anzeigenverkäufern - durch die digitale Revolution eine Vielzahl neuer Berufsfelder. Journalisten sind ja Geschichten-Erzähler. Sie machen ihren Job deshalb gerne, weil sie andere unterhalten wollen. Diesen werden sie halt nicht mehr nur für Verlage machen, sondern immer mehr für Unternehmen.

Journalisten wollen doch nicht einfach nur Geschichten erzählen, unabhängig davon, wer sie dafür bezahlt. Viele wählen diesen Beruf, weil sie Transparenz schaffen und zur Meinungsbildung beitragen wollen. 
Rein qualitativ gibt es keinen Unterschied, ob ein Journalist für einen Verlag oder für ein Unternehmen schreibt. Ob ein Journalist Babypflege-Experte ist bei "Wir Eltern" oder beim Pampers-Konzern selber, spielt keine grosse Rolle.

Wer bei Pampers angestellt ist und im Sinne des Unternehmens schreibt, ist doch PR-Schreiber und kein Journalist?
Doch, sicher ist dies ein Journalist. Journalist ist man doch nicht nur, wenn man etwas für Magazine produziert, die per Abonnement zu beziehen oder am Kiosk zu kaufen sind. Ich bin Journalist, wenn ich für ein journalistisch gestaltetes Produkt arbeite.

Es gibt Leute, die würden Sie sicher nicht als Journalist bezeichnen, da Sie als Chefredaktor einer Unternehmenspublikation tätig sind (vgl. z.B. Interview mit ZHAW-Professor Daniel Perrin).
GDI Impuls erzielt einen grossen Teil seiner Einnahmen durch Abonnements und Kioskverkauf – und wer mir persönlich die Unabhängigkeit abspricht, den fordere ich zum Duell. Beim Bewerbungsgespräch war mir wichtig zu erfahren, inwiefern ich kritisch über die Migros schreiben darf. Dass dann meine Chefin Karin Frick sagte, dass die Migros im GDI-Impuls am besten überhaupt nicht vorkomme, beruhigte mich.

Leitprognosen hätten Zukunft, schreiben Sie im aktuellen GDI-Impuls. Was meinen Sie damit?
Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, aus den eintreffenden Informationen ständig neue Prognosen zu errechnen. Diesen Umstand sollten Medien berücksichtigen. Sie sollten viel mehr Voraussagen machen über die unmittelbare und mittelbare Zukunft. Ein Beispiel, wo wir solche Prognosen bereits kennen, ist das Wetter. Die Voraussagen über den Verkehr sollten noch viel genauer sein als bisher und mit individueller Informationen bieten, je nach dem ob ich gerade in Zürich, Berlin oder Malaga bin.

Wetterprognosen haben wenig mit Leitartikeln zu tun. Und Leitartikel werden ja durchaus geschrieben, in der NZZ zum Beispiel.
Ja, aber keiner dieser Leitartikel-Schreiber ist auch tatsächlich bereit, Verantwortung zu übernehmen, dafür dass das, was er schreibt, auch tatsächlich so kommt. Leitartikel-Autoren malen grosse Bilder – Amerika, Russland, Schweiz, Glück, Macht oder Geld – und lassen die Leser dann damit stehen. Diese grossen Analysen bringen nichts, wenn nicht auch eine Prognose über die Zukunft gemacht wird. Die Leser sollten den Leitartikler ihres Vertrauens danach beurteilen können, ob das was er schreibt auch tatsächlich stimmt. Das wird bisher gar nicht gemacht.

Dass keine Prognosen gemacht werden, ist vernünftig, denn Voraussagen über die Zukunft sind sinnlos. Niemand kann alle möglichen Faktoren einberechnen.
Das ist ja beim Wetter auch so. Ein aktuelles Thema wäre Snowden. Es beschäftigte doch die ganze Welt die Frage, in welchem Land er schliesslich landen wird. Hierzu hätte man Prognosen machen sollen! Klar gibt es – besonders bei Langzeitprognosen – immer viele Unsicherheitsfaktoren. Doch dann müssten wir ja auch keine Wetterprognosen machen.

Welchen Zweck erfüllen solche Prognosen zu Snowden? Das ist doch reine Unterhaltung, ähnlich wie Horoskope.
Klar, solche Prognosen sind nicht staatsrelevant. Doch solche Inhalte sind wichtig, denn sie sind genau so wichtig wie Rätselseiten in Zeitungen. Sie tragen zur Identität einer Zeitung und zur Leserbindung bei.

Die Finanzkrise hat gezeigt, wie unsinnig Prognosen sind. Die Banken ernannten "Finanzexperten" zu ihren Sprechern. Diese traten in Radio- und TV-Informationssendungen auf, um etwa die Zukunft des Goldpreises oder den künftigen Verlauf des SMI zu prognostizieren. Das Platzen der US-Immobilienblase hat aber keiner von ihnen vorausgesagt.
Sinnlos sind Prognosen deshalb aber nicht. Dort fehlte einfach ein Mechanismus, der denjenigen, die Bockmist erzählen auf die Finger schaut. Die Kontrollinstanz hätte der Journalismus sein sollen. Hier hat der Wirtschaftjournalismus versagt.

Sie sind aber selber Wirtschaftsjournalist.
Stimmt. Aber wie hiess es doch so schön, als vor zwei Jahren Anleger aus aller Welt vom Euro in den Franken flüchteten: Man kann nicht alleine das Meer austrinken.

Interview: Edith Hollenstein



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Kommentare

  • Alfred Preisig, 05.10.2016 10:15 Uhr
    Wer heute sagt – Interviewer wie Interviewter –, "the medium is the message" sei veraltet, hat schon gestern nichts verstanden. Genau darin liegt ja McLuhans Message.
  • Enni Sedlacek, 17.07.2013 14:05 Uhr
    Nietzsche 1882: "Gott ist tot!" Gott 1900: "Nietzsche ist tot." Soso, Zeitungen, Verlage, Anzeigen werden mal wieder "verschwinden". Ach, Detlef Güürtler, das madige Geplärr haben wir doch schon 1995 als todsichere Prognose für das Jahr 2000 gehört. Sicher ist: 2050 sind NZZ, Beobachter oder Blick noch immer starke Medienmarken.
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