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Das kostenlose Zukunftskonzept

Stefan Millius

Die Zukunft der Lokalzeitung wurde in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entworfen. Das Konzept war damals schweizweit revolutionär, und es hatte auch nicht ewig Bestand. Das wiederum lag nicht an der bestechenden (und bestechend einfachen) Idee, sondern an der allgemeinen Pressekonzentration, die Ende der 90er-Jahre wütete.

Revolutionär war ein Patron alter Schule, der damals selbst schon kein junger Mann mehr war. Der Verleger aus dem thurgauischen Kreuzlingen hiess Paul Ruckstuhl; er verstarb vor fünf Jahren. Ruckstuhl gab fünf Lokalzeitungen heraus, vier auf Thurgauer Boden, eine im Kanton St. Gallen. Sie trugen so klangvolle Namen wie «Thurgauer Volksfreund», «Thurgauer Volkszeitung», «Bischofszeller Nachrichten», «Thurgauer Tagblatt» und «Neues Wiler Tagblatt».

So weit, so unspektakulär. Lokalzeitungen gab es damals wie Sand am Meer. Aber Ruckstuhl machte etwas völlig Neues. Seine Zwei-Bund-Blätter bestanden aus einem lokal-regionalen und einem national-internationalen Bund, dem sogenannten «Tagesspiegel». Und nun kommt das Husarenstück: Die fünf Zeitungen starteten alle mit dem lokal-regionalen Stoff. Da konnte Bill Clinton zum neuen US-Präsidenten gewählt werden oder ein Bürgerkrieg in Afrika ausbrechen: Auf der Titelseite fanden sich die Gewerbemesse Rickenbach, der Knatsch in einer Mittelthurgauer Gemeinde oder die abgebrannte Scheune in Altnau. Nicht nur die Titelseite, der ganze erste Bund war strikt dem Geschehen vor der Haustür gewidmet. Erst in Bund 2 durfte der Bundesrat dann auch noch etwas sagen.

Niemand setzte «local first» so gnadenlos um wie Paul Ruckstuhl. Und er blieb allein damit. Ein Ereignis aus der Region schafft es heute kaum jemals prominent auf eine Frontseite, wenn nicht gerade Blut fliesst, ansonsten müssen ein paar Anrisse reichen. Die Konsequenz: Die ersten paar Seiten jeder Schweizer Tageszeitung sehen im Wesentlichen gleich aus. Sie sind gefüllt mit nationalem und internationalem (Agentur-)Stoff, den man meist bereits auf dem Smartphone beim Kaffee nach dem Duschen gelesen hat, bevor die Zeitung überhaupt im Briefkasten liegt.

Die kleinen Ostschweizer Blätter waren der Zeit voraus, und heute käme das Konzept, das damals noch einige Leser verwirrte, gut an. Paul Ruckstuhl wurde für diese weitsichtige Grosstat zu wenig gewürdigt. Die schönste Ehrung posthum wäre es, wenn einige Zeitungen, die sich selbst als regional verstehen, das Konzept einfach übernehmen würden. Natürlich löst das nicht alle Probleme, die Verlage haben noch einige andere Hausaufgaben. Aber diese kleine, feine Idee made in Thurgau würde mehr Lesernähe schaffen als jede grosse Imagekampagne. Und da liegt übrigens kein Copyright drauf.


Stefan Millius ist geschäftsführender Partner der Kommunikationsagentur insomnia GmbH in St.Gallen.

Der Autor vertritt seine eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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Kommentare

  • Stefan Millius, 05.09.2017 10:32 Uhr
    @ Daniel Huber: Unsere Agentur war 2005 Vorreiter mit appenzell24.ch (gibt es immer noch unter neuer Besitzerschaft) und einer Reihe weiterer lokaler Onlinemedien. Es ist mir daher bekannt, dass es online diverse Modelle gab und gibt. Mir ging es in diesem Beitrag explizit um die Frage, wie Print-Titel den lokalen Anspruch einlösen können.
  • Claudia Ruckstuhl, 04.09.2017 21:16 Uhr
    Danke lieber Stefan Millius, Dein Blick zurück hat auch mir wieder viele Erinnerungen an die erfolgreiche, verlegerische Tätigkeit meines Vaters vor Augen geführt. Es braucht einfach solche Impulsgeber und Menschen, die von Innovationsgeist getrieben werden. Der Slogan "Lokal...global" haben damals extrem engagierte Redaktionsteams an verschiedenen Standorten im Thurgau umgesetzt. Viele Mitarbeitende von damals sind bis heute eng befreundet. "Local first", ob digital oder Print - vielleicht kommt der Ball bald ins Rollen...!
  • Daniel Huber, 04.09.2017 08:01 Uhr
    In der Zentralschweizer besteht mit zentralplus.ch seit mehreren Jahren ein Online-Portal, das fast ausschliesslich auf regionale Infos setzt. Ähnliche Projekte gibt es in Basel und Zürich. Zeitgemäss wäre es, local first nicht mehr nur in Print zu denken.
  • Daniel Neukomm, 01.09.2017 10:13 Uhr
    Seit 45 Jahren in der Westschweiz eine Erfolgsgeschichte und ein Garant für die Berichterstattung der lokalen Geschehnisse in Genf und Lausanne ist der Gründer und Patron Jean-Marie Fleury in fast einer halben Million Haushalte der Westschweiz. Das ist eine Nummer! Es gibt auch ein grosses lokales Leben enet des Röschtigraben.
  • Msrtin Andreas Walser, 01.09.2017 01:08 Uhr
    Als damaliger Co-Redaktionsleiter Thurgauer Volksfreund/Thurgauer Tagblatt und nachmaliger Publizistischer Leiter der «Tagesspiegel-Presse» freue ich mich sehr über diese späte Ehrung meines damaligen Verlegers Paul Ruckstuhl. Die Freude und Ehre, dass ich dieses Projekt von den Anfängen bis zur «Produktionsreife» mitgestalten und anschliessend mit meinen Kolleginnen und Kollegen umsetzen durfte, zählt zu den herausragenden Erlebnissen meines Lebens; ich bin bis heute stolz darauf, an diesem visionären Projekt beteiligt gewesen zu sein. Ich habe, neben einem unerschütterlichen Glauben an (gut gemachte) Printmedien, sehr vieles aus dieser Zeit mitgenommen, so zum Beispiel: - dass es vorab einer Verleger-Persönlichkeit bedarf, die in der Phase der Konzeption die Liebe und den Glauben an das Produkt/die Produkte über die (kurzfristige) Rendite stellt – eben: eines Patrons - dass solche Projekte nur gelingen können im Schosse eines zwar heterogen zusammengesetzten Projektteams aus externen Beratern, kreativen und visionären Köpfen aus dem direkten Umfeld der Produkte/Verlage und internen Fachleuten, das aber hierarchiefrei, offen und freundschaftlich zusammenwirkt - und dass die anschliessende Umsetzung, die notabene bis auf die abschliessende externe grafische Beurteilung des Erscheinungsbildes und der damit einhergehenden, damals revolutionären Neugestaltung der Zeitungsköpfe, ausschliesslich «im eigenen Haus» erarbeitet wurde, nur mit einem bestens harmonierenden, verschworenen Team von begeisterten, überzeugten, sich «bis zum Umfallen» für ihre Zeitung einsetzenden Redaktoren und Journalisten gelingen kann. Der gemeinsame Wille aller Beteiligter hat damals «Berge versetzt» - ein eindrückliches, ein prägendes Ereignis für mich und wohl für alle Beteiligten. Ich wünschte mir mehr Mut, mehr Kreativität, mehr Herzblut, mehr Experimente, damit die Print-Medien in bestehenden «Nischen» nicht nur überleben, sondern wieder erblühen können. Martin A. Walser, maw@martinwalser.ch
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