01.11.2022

DHC Bülach

«Wir haben einen Marathon vor uns»

Das Digital Health Center Bülach will die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben und branchenübergreifend Player zusammenbringen. CEO Stefan Lienhard gewährt Einblicke in den 2022 gestarteten Innovationshub und er spricht über Hürden beim elektronischen Patientendossier.
DHC Bülach: «Wir haben einen Marathon vor uns»
«Ich bin kein Fan davon, das elektronische Patientendossier mit dem Stand der Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen gleichzusetzen», sagt Stefan Lienhard, CEO des Digital Health Center Bülach. (Bilder: zVg)

Herr Lienhard*, es ist auch 2022 keine Seltenheit, dass Patientenakten bei der Überweisung in ein Spital noch via Fax oder per Post übermittelt werden müssen. «Das kann doch nicht sein», so der weitverbreitete Tenor in der Bevölkerung. Haben Sie Verständnis für diese Haltung?
Glauben Sie mir, diese Aussage könnte von mir selbst kommen. Ich verstehe die Leute sehr gut, die sich über den Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen mokieren oder die das nervt. Für diesen allgemeinen Unmut gibt es verschiedene Gründe.

Zum Beispiel?
Die Menschen sehen, was in anderen Branchen mittels Digitalisierung möglich gemacht wird, und sie erwarten endlich auch ähnliche Services und Lösungen vom Gesundheitswesen, zum Beispiel von Ärzten oder Spitälern. In den letzten zwei Jahren haben viele Bürgerinnen und Bürger hautnah digitale Erfahrungen mit der Branche gesammelt. Ich befürchte, dass diese nicht nur positiver Art waren – beispielsweise analoge Datenerhebungen, Datenschutz sowie Datensicherheit, meineimpfungen.ch et cetera. Ich finde diesen spürbaren Druck von aussen gut, denn schliesslich haben wir bald 2023, und es ist an der Zeit, dass auch das Gesundheitswesen zeitgemässe digitale Services und Dienstleistungen anbietet – und fördert.

«Vorhaben wie das elektronische Patientendossier (EPD) kommen kaum vom Fleck», schrieb die NZZ in einem Kommentar über den «offensichtlichen Rückstand der Schweizer Behörden bei der Digitalisierung» gegenüber dem Ausland. Inwiefern trifft dieser Nachteil auf das hiesige Gesundheitswesen zu?
Ich bin kein Fan davon, das EPD mit dem Stand der Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen gleichzusetzen. Da tun wir ganz vielen Firmen und Start-ups unrecht, denn es gibt sehr innovative und gut funktionierende Lösungen, welche die Branche implementiert hat – und dies nicht nur in den letzten zwei Jahren. Aber es ist ganz klar, dass eine digitale Patientenakte ein wichtiges und zentrales Puzzleteilchen eines digital funktionierenden Gesundheitswesens ist.

Inwiefern?
Weil in einem Patientendossier erstens relevante Daten zusammenlaufen und weil damit zweitens sowohl in der Administration wie auch bei der Behandlung oder Therapie bereits heute spürbar Kosten eingespart werden könnten. Grundsätzlich sehe ich es so, dass wir uns beim Thema in der Schweiz selbst im Weg stehen und unseren Standortvorteil unter anderem mit zu viel falscher Bürokratie mehr und mehr verspielen. 

«Die starke politische Fragmentierung der Schweiz ist nicht gerade förderlich, um in puncto Agilität gegenüber dem Ausland aufzuholen»

Liegt es wirklich nur an der dezentralen Struktur des Gesundheitswesens?
Nein. Die Probleme sind vielschichtig, es würde Seiten füllen, darauf einzugehen. Aber es ist richtig, dass die starke politische Fragmentierung der Schweiz nicht gerade förderlich ist, um in puncto Agilität oder Entscheidungsfreudigkeit respektive Entscheidungsschnelligkeit gegenüber dem Ausland aufzuholen. Gesucht und gefordert sind im digitalen Zeitalter internationale, nationale und einheitliche Lösungen – und keinesfalls kantonale Lösungen und Alleingänge –, um schneller voranzukommen.

Genau an diesem Problem will das Digital Health Center Bülach (DHC)** ansetzen: Ziel des Innovationszentrums ist es, «mit digitalen Lösungen Prozesse, Produkte und Dienstleistungen im Gesundheitswesen mit Blick auf den Patienten zu verbessern». Es gibt schon einige solche Zentren in der Branche – inwiefern unterscheidet sich das DHC von der Konkurrenz?
Was uns als Digital Health Center (DHC) besonders macht ist, dass bei uns unter einem Dach Start-ups, Firmen aus dem Gesundheitswesen, ICT-Partner sowie weitere Lösungsanbieter gemeinsam an digitalen Themen und Herausforderungen forschen und arbeiten. Wir sind ein als Verein organisiertes, heterogenes und offenes Netzwerk und wir bieten unserer Community neben der Vernetzung mit Gleichgesinnten auch physische Arbeitsmöglichkeiten in Form von Büros, Arbeitsplätzen und Sitzungszimmern. Ergänzt wird das Ganze mit themenspezifischen und inspirierenden Webinaren und physischen Events.

Sie haben den branchenübergreifenden Netzwerk-Charakter angesprochen: Fehlt es im Gesundheitswesen demnach an einer Zusammenarbeit der zentralen Leistungserbringer, der Politik, Start-ups und der ICT-Branche?
Ja, so ein Konstrukt hat der Branche in meinen Augen bislang gefehlt, sozusagen ein Labor für Digital-Health-Themen. Umso mehr freut es mich, dass es nun tatsächlich ein solches Netzwerk im Kanton Zürich gibt und dass ich dieses hier in Bülach aufbauen und entwickeln darf. Start-ups finden bei uns einfach und pragmatisch Zugang zu etablierten Firmen der Branche. Entwickler und Implementierungspartner können ihre Lösungen und Ideen praxisnah mit Mitgliedern testen und weiterentwickeln. Spitäler, Versicherer oder andere Marktteilnehmer erhalten von unserem Netzwerk Unterstützung zu Themen rund um Digitalisierung oder Innovation.

Von wem werden Mitglieder konkret unterstützt?
Unsere Mitglieder werden von unserer Community, das heisst durch andere Mitglieder und Kooperationspartner beraten oder betreut. Dieses Netzwerk bauen wir fortlaufend aus, sowohl innerhalb wie auch ausserhalb der Branche. Ein sehr spannender Partner ist zum Beispiel die Firma 3ap, eine Digitalagentur aus Zürich, die schon in anderen Branchen sehr erfolgreich Digitalisierungsprojekte umgesetzt hat. Sie bringt sehr viel Know-how und Expertise rund um die Themen Digitalisierung und Innovation mit und genau dort unterstützt das DHC das Gesundheitswesen: mit konkreten Dienstleistungen entlang dem (digitalen) Patientenpfad und zu Themen wie Innovationsmanagement, Design Thinking oder UX Design. Genau diese Lösungsanbieter werden sich zu spannenden und wichtigen Anlaufstellen für unsere Mitglieder entwickeln.

«Ich hatte schon vor Corona den Eindruck, dass sich was tut in Sachen Digitalisierung der Gesundheitsbranche»

«Der Zeitpunkt und die Umstände könnten nicht günstiger sein, um ein Projekt wie das DHC zu starten», heisst es von Ihnen auf der Website. Können Sie das bitte erklären?
Ich hatte schon vor Corona den Eindruck, dass sich was tut in Sachen Digitalisierung der Gesundheitsbranche. Lange war davon zwar nur wenig zu spüren, aber seit ein paar Jahren gedeiht langsam, aber sicher der digitale Spirit, den ich so schmerzlich vermisst habe. In den letzten zwei Jahren hat die Branche zudem bewiesen, dass sie sich in Sachen Anpassungsfähigkeit und Innovation überhaupt nicht vor anderen Industrien verstecken muss.

Wie meinen Sie das?
Es ist eine Vielzahl an guten Lösungen entstanden, und viele Firmen haben bei deren Entwicklung und Implementierung realisiert, dass ein offenes Miteinander erfolgversprechender ist, als wenn man im stillen Kämmerlein am selben Problem tüftelt wie der Nachbar zwei Strassen weiter. Sind wir doch ehrlich: Die Zeiten von Alleingängen sind passé. Diese, nennen wir sie «Aufbruchstimmung», und dieses Bewusstsein, eben das Momentum, wollen wir mit unserer Initiative zugunsten der Branche nutzen.

Die Idee des DHC wurde 2019 von der Standortinitiative der Stadt Bülach ins Leben gerufen. Gleich für den Start konnten namhafte Partner gewonnen werden, die wie die Stadt Bülach Vorstandsmitglied sind: Helsana, Hirslanden, Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich, Spital Bülach, Kantonsspital Winterthur, ZHAW, ZKB. Mittlerweile sind rund 40 Mitglieder dabei. Wie zufrieden sind Sie damit?
Nach sechs Monaten im physischen Live-Betrieb bin ich sehr zufrieden mit der bisherigen Entwicklung. Das Feedback und Interesse der verschiedenen Interessenten, vom Einmann-Start-up bis zum internationalen Tech-Konzern, zeigt, dass wir mit unserem Ansatz sicher nicht falsch liegen. Wir haben hier einen Marathon und keinen Sprint vor uns. Deshalb sind wir auf Partner und Mitglieder angewiesen, die langfristige Absichten haben und Verständnis für den Aufbau eines so interdisziplinären Netzwerks mitbringen. Diesen Goodwill spüre ich fast täglich und er macht mir Mut, den eingeschlagenen Weg beharrlich weiterzugehen.

In der Schweiz spielen die kantonalen Gesundheitsdirektionen (GDKs) eine zentrale Rolle. Weshalb fehlt die GDK des Kantons Zürich unter den aufgeführten Partnern des DHC?
Nur weil die GDK noch nicht offiziell aufgeführt ist, heisst es ja nicht, dass wir noch nicht im Austausch stehen. Im Ernst: So eine Zusammenarbeit eröffnet beiden Seiten spannende Möglichkeiten und sie wäre schweizweit einmalig. Die Politik wäre näher am Puls der Branche und für viele unserer Mitglieder wäre dieser Austausch mit politischen Instanzen extrem wertvoll.

«Wir versuchen zuerst einmal im Kleinen auszuprobieren und dafür rasch zu lernen»

Was stimmt Sie denn optimistisch, dass sich die GDK des Kantons Zürich bald dem DHC anschliesst?
In der GDK arbeiten viele smarte Personen, die ausgezeichnetes Know-how im digitalen Bereich besitzen und die den Vorteil eines solchen Netzwerks quasi vor ihrer Haustüre bestens einordnen können. Sie kennen die Herausforderungen der Branche bestens und kennen auch die digitalen Hürden und Stolpersteine gut. Am besten zeigen wir der Politik unsere verschiedenen Rollen anhand von konkreten Projekten und Erfolgsgeschichten, das ist zielführender als in Powerpoints. 

Sie möchten noch mehr Mitglieder ins Boot holen. Interessierte müssen einen Beitrag entrichten – dabei gibt es verschieden Kategorien, die von der Miete von Arbeitsplätzen sowie Jahresbeiträgen von 500 bis zu 50'000 Franken reichen. Was ist die Gegenleistung?
Wie bei den meisten dieser Modelle stehen hinter den verschiedenen Mitgliedschaftsstufen unterschiedliche Services und Dienstleistungen: Platin- und Goldmitglieder haben beispielsweise flexible Arbeitsplätze inkludiert. Start-ups «erkaufen» sich mit der Miete von Arbeitsplätzen vor Ort ein jährliches Kontingent an Beratungsstunden, welche sie in unserer Community in Anspruch nehmen können. Weiter erhalten Mitglieder zum Beispiel eine unterschiedliche Anzahl an Tickets für unsere Webinare und Events, sie können unsere Sitzungszimmer kostenlos nutzen, erhalten Zugang zu Studien, Whitepaper et cetera. Es gehört zu meinen Aufgaben, dieses Angebot in den kommenden Monaten weiterzuentwickeln.

Finanziert sich das DHC ausschliesslich aus Mitgliederbeiträgen und Mietzahlungen?
Das sind unsere zwei primären Einnahmequellen – weitere Revenue Streams wie zum Beispiel das Konzept eines Showrooms, die Vermietung unserer Räumlichkeiten oder die Veranstaltung von Events Dritter sind angedacht. Vergessen Sie nicht, dass das DHC selbst ein Start-up ist und mit ganz ähnlichen Herausforderungen wie andere junge Firmen kämpft.

Sie sind überzeugt, dass es Zeit brauche, bis ein mutiges Projekt wie das DHC zum Laufen komme.
Ja, es braucht Zeit, bis sich die Menschen, Firmen und Prozesse im DHC finden – wir stürzen uns daher auch nicht auf hyperkomplexe Projekte, sondern versuchen zuerst einmal im Kleinen auszuprobieren und dafür rasch zu lernen.

«Mich nach 25 Jahren von Grossfirmen zu verabschieden, fiel mir alles andere als leicht»

Dennoch haben Sie ein Jahr nach der Gründung bereits drei bis vier Erfolgsstorys feiern können, wie Sie mir im Vorgespräch gesagt haben. Mögen Sie eine mit unserer Leserschaft teilen?
Eine schöne Story ist, wie unbürokratisch und pragmatisch wir seit Anfang Mai unser erstes Start-up, Adamcares, und dessen Founder Lorenz Wiegand bei der (Weiter-)Entwicklung unterstützen. Unsere Community beantwortet Fragen rund um den Gründungsprozess, öffnet ihm Türen zu Spitälern, stellt Kontakte zu Investoren oder Start-up-Coaches her, hilft bei Prozessfragen oder bei regulatorischen Themen.

Weshalb haben Sie diese Erfolgsgeschichten nicht aktiv nach aussen kommuniziert?
Die meisten davon sind erst jetzt im Herbst entstanden oder waren noch nicht ganz spruchreif. Und ich muss auch anfügen: weil ich einfach noch nicht dazu gekommen bin vor lauter Arbeit.

Sie sprechen damit an, dass Sie als CEO bisher allein sind beim DHC. Sie müssen von Marketing über Organisation bis zu Networking alles selbst machen. Wann erhalten Sie Unterstützung? Es dürfte doch sicher Ihr Ziel sein, die Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen …
Das ist richtig, momentan liegt die Verantwortung für das DHC ganz bei mir. Man hat mir vom Vereinsvorstand aber von Anfang an offen kommuniziert, welche Gedanken man sich zum Thema Personalressourcen gemacht hat und dass ich ab circa Mitte 2023 mit Unterstützung rechnen kann. Wir wussten aber zum Beispiel nicht, wie sich das DHC im ersten Jahr entwickelt und ob der Businessplan so wie geplant umgesetzt und eingehalten werden kann. Umso mehr freut es mich, dass ich mich nun tatsächlich bald ernsthaft auf die Suche nach geeigneter Unterstützung machen kann.

Sie hatten einen sicheren Job bei der Schulthess Klinik. Was hat Sie dazu bewogen, diese Herausforderung mit unsicherem Ausgang beim DHC anzunehmen? Sind Sie ein risikofreudiger Mensch?
Wenn es um Finanzen geht, handle ich meist klassisch und sicherheitsorientiert. Wenn es um das Ausprobieren von zum Beispiel neuen Hobbies oder Technologien geht, bin ich sicher eher experimentierfreudig unterwegs. Der Schritt, mich nach 25 Jahren von Grossfirmen zu verabschieden, fiel mir also alles andere als leicht – der innerliche Lösungsprozess dauerte ganze drei Monate und führte zu ein paar schlaflosen Nächten. Schlussendlich war es einfach die simple Erkenntnis, dass ich hier die einmalige Chance erhalte, von Grund auf etwas Neues zu entwickeln und dass meine aktuelle Lebenssituation dies auch ohne Weiteres zulässt.

Zum Schluss: Wann denken Sie, wird es überall in der Schweiz der Vergangenheit angehören, dass man Patientendaten via Fax oder Post an Spitäler übermitteln muss?
Das wird spätestens dann geschehen, wenn niemand mehr lebt, der ein Fax bedienen kann beziehungsweise weiss, wozu diese Kästen einmal da waren. Soll dies vorher passieren, braucht es ein gesetzliches Verbot – freiwillig geschieht das nicht, da spiele ich jetzt zum Schluss noch den Spielverderber.


*Stefan Lienhard ist seit Februar 2022 CEO des Digital Health Center Bülach (DHC). Zuvor war der 44-Jährige für mehr als drei Jahre als Digital Manager für die Schulthess Klinik tätig. Davor arbeitete er rund zwei Jahre für die Krankenversicherung Sanitas als Channel Manager Social Media. Am längsten arbeitete er für die Hirslanden-Gruppe: Während fast acht Jahren in verschiedenen Funktionen: zuerst als Projektleiter Content Management, dann als Projektleiter Digital Media und schliesslich als Teamleiter Social Media. Die Ernennung zum Social-Media-Leiter bei Hirslanden im Frühling 2013 war für Lienhard speziell, war er doch damit laut eigenen Angaben der erste Social Media Manager eines Schweizer Spitals. Vor seiner Zeit im Gesundheitswesen arbeitete er für Hotelplan Suisse und die UBS.

**Der Trägerverein DHC des Digital Health Center Bülach wurde am 28. Oktober 2021 gegründet. Zwei Monate nach dem Start von CEO Stefan Lienhard, am 4. April 2022, ging das Innovationszentrum im Provisorium an der Schützenmattstrasse 14 in Bülach Nord live. Am 12. Mai 2022 wurde es im feierlichen Rahmen von den beiden Regierungsrätinnen Natalie Rickli und Carmen Walker Späh offiziell eröffnet. Der Umzug in den Neubau beim Glasi-Areal erfolgt im ersten Quartal 2024 – dieser Standort wird auf einer Fläche von 1600 Quadratmetern Platz für 100 Arbeitsplätze bieten.


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