27.03.2023

Martin Suter

«Ich hatte ein gewaltiges Chefbüro»

Der 75-jährige Schweizer Schriftsteller Martin Suter hat mit «Melody» seinen zwölften Roman veröffentlicht. Wie wurde Martin Suter überhaupt Martin Suter? Ein Gespräch über Kritiker, gutes Storytelling und seine Zeit als Werber.
Martin Suter: «Ich hatte ein gewaltiges Chefbüro»
«Im Gegensatz zu den früheren Romanen habe ich aber dieses Buch zuerst von Hand geschrieben», sagt Martin Suter. (Bild: Franco Tettamanti)

Herr Suter, Ihr zwölfter Roman «Melody» ist erschienen. Welche Erwartungen haben Sie als Schriftsteller, dessen erster Roman «Small World» bereits die Bestsellerlisten stürmte, an dieses Buch?
Ich freue mich sehr auf das Erscheinen von «Melody» und hoffe, dass der Roman vielen so gut gefällt wie mir. Das mit «Small World» habe ich allerdings anders in Erinnerung: Es war 1997 kein Verkaufsschlager, eher ein Achtungserfolg für einen Erstling. Und der Roman wurde vom Feuilleton sehr distanziert besprochen, in der Vergangenheit verklärt man vieles. Das Feuilleton mochte es nicht, dass ein Werbetexter plötzlich Romane schreibt. Literaturkritiker ziehen es vor, dass Werbetexter auf ihrem Terrain bleiben und nur auf der Rückseite der gedruckten Zeitungsseiten erscheinen (lacht). Aber Sie haben recht, «Small World» ist mittlerweile ein Longseller, wurde mit Depardieu in der Hauptrolle verfilmt und gilt als Lehrbuch für angehende Pflegerinnen und Pfleger in der Geriatrie.

Leiden Sie unter der angeblichen Missachtung durch das Feuilleton?
Nein, das Feuilleton missachtet mich schon lange nicht mehr. Selbst die NZZ, die lange Zeit an keinem meiner Romane einen guten Faden gelassen hat, sagt inzwischen, es sei gut gemacht, aber unterhaltend und deshalb trivial. Zurück zum Erfolg meiner Romane: Erst mein dritter, «Ein perfekter Freund» im Jahr 2002, war mein wirklicher Durchbruch. Er war der erste, der auf der «Spiegel»-Bestsellerliste landete. Sogar mein zweiter Roman, «Die dunkle Seite des Mondes», wurde mit spitzen Fingern angefasst, und die Kritiker wunderten sich über die komische Story. Heute ist er der Lieblingsroman vieler Leute, unter anderem meiner Frau.

Es ist eine Glaubensfrage unter Schriftstellern: Soll man beim Beginn des Schreibens das Ende des Buches bereits kennen oder sich treiben lassen?
Ich sage nicht, dass man dies nicht machen soll; ich weiss nur: Ich sollte es nicht. Dazu habe ich meine eigene Theorie: Ein Roman muss gut konstruiert sein, damit er nicht konstruiert wirkt. Konstruiert man die Handlung vor dem Schreiben nicht, so kommt man in Teufels Küche. Kaum nähert man sich dem Ende der Geschichte, muss man alle Stränge der Handlung zu einem einzigen Strang geknüpft haben, damit diese funktioniert. Ich habe mich einmal mit Donna Leon darüber unterhalten. Sie war anderer Ansicht und erklärte mir, dass sie sich während des Schreibens von der Handlung dem Ende zutreiben liesse. Am Anfang habe sie eine Leiche, und daraus entstehe dann die Geschichte. Das war schätzungsweise nach ihrem neunten Roman, vielleicht macht sie es heute anders.

«Melody» spielt mit vertrauten Suter-Figuren, einem Alt-Nationalrat und einem ewigen Studenten, aber auch an vertrauten Suter-Orten, einer Villa am Zürichberg. Sie widersetzen sich dem Zeitgeist und setzen nicht auf Diversity.
(Lacht.) Sie haben recht, dafür bin ich wohl zu alt.

«In meinem jüngsten Roman hat es viele Jugenderinnerungen»

Im Gegensatz zu Ihren früheren Romanen nennen Sie den Handlungsort Zürich, und es gibt auch konkrete historische Ereignisse, wie die Zürcher Unruhen, die Sie beschreiben.
Das ist mir gar nicht so richtig aufgefallen, aber es stimmt. Eigentlich handeln alle meine Romane in Zürich, nur nannte ich früher den Namen nie. Bei meinem ersten, «Small World», habe ich aber die Ortschaften ausserhalb von Zürich mit ihrem richtigen Namen genannt. Vielleicht wollte ich am Anfang meiner Schriftstellerkarriere nicht zu viel Lokalkolorit reinbringen, damit ich nichts von einem «Züricher Autor, der einen Züricher Roman» geschrieben hat, lesen musste (lacht). Nach 25 Jahren bin ich nun ein bisschen selbstsicherer geworden. Ich glaube, meine Leserinnen und Leser wissen mittlerweile, dass ich aus Zürich stamme. In meinem jüngsten Roman hat es viele Jugenderinnerungen. Im Gegensatz zu den früheren Romanen habe ich aber dieses Buch zuerst von Hand geschrieben. Das war eine Premiere.

Was wollten Sie eigentlich als Kind werden: Werber oder Schriftsteller?
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war mir klar, dass ich Schriftsteller werden wollte. Ich habe das Collège Saint Michel in Freiburg besucht. Nichts interessierte mich wirklich, oder ich war in den meisten Fächern – ausser in Deutsch – unbegabt. Ich gehörte zu jenen Schülern, deren Schulaufsätze vorgelesen wurden, was meine Klassenkameraden nicht so toll fanden. Ich habe damals sehr viel gelesen, was ich heute vor lauter Schreiben leider weniger tue. Vor allem die Werke von Friedrich Glauser, die mir mein Onkel gegeben hatte, haben es mir schon als Junge angetan. Später kamen die Krimis von Dürrenmatt dazu. Ich dachte mir damals, eigentlich könntest du das auch. Doch ich hatte keine Vorstellung, wie man von der Schriftstellerei leben könnte. Kaum war ich volljährig, wollte ich meine damalige Freundin heiraten. Als mich aber mein künftiger Schwiegervater fragte, wovon wir später leben wollten, kam ich ins Grübeln. Ein Cousin empfahl mir Werbetexter, was mir sofort gefiel.

Und so wurden Sie Werbetexter
Ich habe mich zuerst bei GGK Basel beworben. Das war damals die einzige GGK-Filiale überhaupt. Markus Kutter, einer der drei Gründer, meinte aber, dass ich für einen Werbetexter noch viel zu jung sei. Stattdessen könnte ich es als Werbeassistent versuchen. So wurde ich Werbeassistent.

GGK war damals die beste Adresse überhaupt.
Ich fand dies auch. GGK war eine Textagentur, die sich an den Grundsätzen des amerikanischen Werbers Howard Luck Gossage orientierte, dessen Anzeigen nicht nur aus einem Bild und einem Slogan bestanden, sondern sehr textlastig waren. In der grossformatigen «New York Times» machten sie ganzseitige Anzeigen, die aus mehreren tausend Anschlägen bestanden. Die Devise lautete: Ein Text ist niemals zu lang, aber er ist meistens zu wenig lang gut. Das war eine grossartige Zeit. Bei GGK gingen bekannte Künstler wie Daniel Spoerri, Dieter Roth oder Rainer Brambach ein und aus. Wir verstanden uns alle als Künstler, die nur einen kurzen Abstecher in die Werbung machten, um Geld zu verdienen. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Branche damals tickte. Auf meiner Website veröffentlichte ich bald einen Text mit dem Titel «Schunkeln im Dunkeln», in welchem ich dies einst beschrieben habe.

«Wir machten wirklich schräge Plakate»

Später machten Sie sich selbstständig und gründeten mit Robert Stalder die Werbeagentur Stalder&Suter.
Robi Stalder, mein damaliger Chef, ist eigentlich mein Entdecker. Als Werbetexter schrieb ich jeweils heimlich Texte. Als er einmal einen von denen las, sagte er: Ab jetzt bist du Texter. 1981 gründeten wir unsere Agentur. Doch auch hier setzt die Verklärung ein. Man unterstellt mir heute oftmals, dass ich der Erfinder der genialen Jägermeister-Kampagne sei. Das ist zwar nett, aber falsch. Der geniale Texter war Wolf Rogosky, ich habe nur, wie auch andere Texter, Jägermeister-Headlines für die Unikat-Kampagne geschrieben.

Aber Sie machten unter anderem Werbung für die Schweizer Käseunion.
Ja, eine unserer Kampagnen hiess zum Beispiel «Ässe statt Stürme». Darunter war jeweils ein Stück Emmentaler abgebildet,
beispielsweise mit der Headline: «Emmentaler ist nun wirklich alles andere als ein erklärungsbedürftiges Nahrungsmittel». Wir machten wirklich schräge Plakate, auf denen wir eine Art Abschaffung der Werbung spielten. Unsere liebe Konkurrentin, die legendäre Doris Gisler, ärgerte sich einmal darüber.

«Ich gab das Geld lieber für Kreative als für die Buchhaltung aus»

Im Jahr 1997 – also mit knapp 50 Jahren – haben Sie sich definitiv von der Werbung entfernt und sind Schriftsteller geworden. War dies geplant?
Es hat sich so ergeben. Robert Stalder ist Mitte der 1980er-Jahre – kurz nachdem wir in Zürich eine Filiale gegründet hatten – aus unserer gemeinsamen Agentur ausgestiegen und wechselte zu GGK Düsseldorf. Nun hatte ich meine eigene Agentur in Basel und im Zürcher Niederdorf, einem kreativen Hotspot mit rund zwanzig Mitarbeitenden. Mein Ziel war es immer, die besten Leute zu engagieren, was mir auch gelungen ist. Da ich das Geld lieber für Kreative als für die Buchhaltung ausgeben wollte, habe ich diese selbst gemacht. Das war keine gute Idee, das konnte ich nicht. Ich war immer mehr überfordert, bekam aber gleichzeitig Kauf- und Übernahmeangebote von anderen Agenturen, die ich ablehnte.

Das muss eine verzwickte Situation gewesen sein.
Auf jeden Fall. In jener Zeit machte ich mit meiner Frau Margrith – was sehr selten war – einen Monat Ferien. Und zwar auf Tahiti. Dort wurde mir bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte, ich wollte ja Schriftsteller werden und nicht Buchhalter. Als ich nach Zürich zurückkam, kontaktierte ich alle, die mir ein Angebot gemacht hatten, und erkundigte mich, ob das Angebot noch gelte. Jean Etienne Aebi war der Zupackendste von allen. Er machte mir ein sehr interessantes Angebot. Er bot mir an, mit 20 Prozent Partner der grössten Schweizer Werbeagentur zu werden, deren Gründung er gerade plante. Und so wurde ich – als Besitzer einer Kleinstagentur – urplötzlich Partner von ASGS/BBDO (Aebi, Suter, Gisler, Studer/BBDO). Aber das war alles viel zu gross und zu ambitiös, angefangen bereits beim Gebäude an der Zürcher Rotbuchstrasse. Ständig wurde das Aktienkapital erhöht, damit die Agentur nicht pleiteging. Glücklicherweise bewahrte mich mein Instinkt davor, weiteres Geld aufzunehmen und nachzuschiessen. Am Ende besass ich noch 0,1 Prozent der Firma. Zwar hatte ich ein gewaltiges Chefbüro, aber mir war nun definitiv klar, dass dies nichts für mich ist, und ich wusste, wenn ich jetzt nicht Schriftsteller werde, werde ich es nie.



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