22.03.2021

Literaturkritik

«Wer nicht liest, verpasst das Leben»

Denis Scheck ist der neue Literaturpapst Deutschlands. «persönlich» wollte vom bekannten Literaturkritiker und TV-Moderator wissen, ob Bücher gegen die Pandemie helfen. Und wenn ja, welche.
Literaturkritik: «Wer nicht liest, verpasst das Leben»
2019 veröffentlichte Scheck unter dem Titel «Schecks Kanon» eine Zusammenstellung von 100 wichtigen Werken der Weltliteratur. (Bild: Alexander Hornoff)

Herr Scheck, momentan herrscht wegen Corona überall eine depressive Stimmung. Eignet sich Literatur als Therapie in dieser Zeit?
Ich habe mich immer dagegen verwahrt, dass Literatur als Trostpflästerchen für vom Kapitalismus, von unseren Liebesschlachten oder meinetwegen auch von Pandemien wundgescheuerte Seelen eingesetzt wird. Aber natürlich habe ich auch nichts anderes im Angebot – zumal ich Agnostiker bin. Kunst hat selbstverständlich auch eine Funktion als Trostreservoir. Ich möchte sie nur nicht darauf reduzieren.

Welche Bücher haben Sie in den letzten Wochen hervorgenommen, um sich abzulenken?
Ich schreibe, um mich abzulenken. Vor acht Jahren hat mein Hund Stubbs, ein Jack Russell, leichtfertig einen Verlagsvertrag unterschrieben. Den üppigen Vorschuss hat das lebenslustige Biest inzwischen längst verfrühstückt, aber natürlich keine Zeile geschrieben. Die Pandemiezeit war ideal, ihn endlich an den Schreibtisch zu zerren. Im Herbst erscheint «Der undogmatische Hund» bei Kiepenheuer & Witsch.

Spüren Sie in dieser Zeit eine grössere Nachfrage nach Büchern?
Da müssten Sie Verlage und Buchhandlungen fragen. Ich kann Ihnen nur berichten, dass Covid-19 jedenfalls keine grössere Nachfrage nach Literaturkritik auslöste.

«Literatur ist die Antwort auf die Frage, was die Menschen gedacht haben, die heute auf dem Friedhof liegen.»

Haben sich die literarischen Vorlieben des Publikums während der letzten Monate stark gewandelt?
Da bin ich mir ganz sicher – jedenfalls bei dem Teil des Publikums, das zwischenzeitlich gestorben ist. Was den Rest angeht, sehen Sie mich überfragt.

Hat sich der grosse «Corona-Roman» bereits angekündigt?
Ich habe gerade Juli Zehs «Über Menschen» gelesen, einen Roman, der im März erscheinen soll. Würde mich wundern, wenn dieses Buch nicht breit rezipiert würde – wenngleich ich es ungern auf einen «Corona-Roman» reduziert sähe. Es geht nämlich auch um Neonazis, höhö. Im Ernst: Mich hat wirklich beeindruckt, wie Zeh es wieder einmal geschafft hat, viele verschiedene Themen in einen Roman einfliessen zu lassen, der einfach die ewig aktuelle Frage beantwortet, die Anthony Trollope in seinem 1875 erschienen Roman «The Way We Live Now» stellte.

Spielen Pandemien, wie wir sie jetzt erleben, in der Literatur eine Rolle?
Eine riesige. Die Literatur der Antike ist voll davon, die Traditionslinien lassen sich über Bocaccios «Decamerone» bis zu Camus’ «Die Pest» und weiter zu Stephen King und Cormack McCarthy ziehen. Es wäre ja auch ein Wunder, wenn es anders wäre. Literatur ist die Antwort auf die Frage, was die Menschen gedacht haben, die heute auf dem Friedhof liegen. Und hat nicht schon Lenin gewusst: «Entweder besiegt der Sozialismus die Laus, oder die Laus besiegt den Sozialismus.» Wir wissen ja, wie das ausgegangen ist.

«Literatur ist die einzige funktionierende Zeitmaschine, die wir besitzen.»

Sie haben einen Kanon der Weltliteratur herausgegeben und setzen sich in Ihrem Vorwort mit der Frage auseinander, warum man Belletristik lesen soll. Ja, warum soll man das?
Literatur ist die einzige Möglichkeit, aus unserer Haut herauszukommen und die Welt einmal in all ihrer Komplexität aus den Augen eines anderen zu betrachten. Literatur ist die einzige funktionierende Zeitmaschine, die wir besitzen. Wer nicht liest, verpasst das Leben. Aber ich rede jetzt so nüchtern übers Lesen – normalerweise schwärme ich mehr.

Aber ist die Wirklichkeit mit Corona und Trump nicht spannender als jedes Buch?
Also, da kenne ich echt viel spannendere Bücher. Ich finde nämlich Trump zum Beispiel wirklich langweilig, «a one-trick pony», wie es im Amerikanischen so schön heisst. Und so ein Virus zeichnet sich ja auch nicht durch sonderliche shakespearesche Charaktertiefe aus, finden Sie nicht? Ich habe es immer als regelrecht flach, um nicht zu sagen seicht empfunden.

Soeben feiert der Schweizer Nationalschriftsteller Friedrich Dürrenmatt seinen hundertsten Geburtstag. Welchen Stellenwert geben Sie ihm?
Schon allein seine profunden vinologischen Kenntnisse sichern ihm einen Platz mindestens im Kanon des 21.  Jahrhunderts… Aber im Ernst: Mir ist jeder unheimlich, der sich nicht von der quecksilbrigen, abgründigen Intelligenz und dem Witz von Friedrich Dürrenmatt angezogen fühlt. Ich habe kein Problem damit, mich vor Grösse zu verneigen – und keine Frage: Dürrenmatt besitzt Grösse.

Und am Ende die Glaubensfrage: Dürrenmatt oder Frisch?
Das ist so wie Fisch oder Fleisch eine falsche Alternative. Ich bin kein echter Freund der Monogamie, jedenfalls in der Literatur. Ich liebe Dürrenmatt und Frisch. Das ist für einen Deutschen wahrscheinlich leichter als für Schweizer.


Denis Scheck (geb. 1964) arbeitet als Literaturagent, Übersetzer US-amerikanischer und britischer Autoren, Herausgeber und Literaturkritiker. Von 1997 bis 2016 war er Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, wo er regelmässig die Sendung «Büchermarkt» moderierte und jeweils freitags die Bestsellerliste des «Spiegel» kommentierte.

Scheck kündigte die Stelle, um ab September 2016 die Moderation des Kulturmagazins «Kunscht!» sowie der Literatursendung «lesenswert» im Fernsehprogramm des Südwestrundfunks zu übernehmen. Den Fernsehzuschauern ist er vor allem als Moderator des Büchermagazins «Druckfrisch» bekannt. Die deutsche Übersetzerin Erika Fuchs verwendete Schecks Namen in einem Donald-Duck-Comic, in dem es eine Spielwarenhandlung Scheck gibt, die Donald Duck mit dem Satz betritt: «Mal sehen, was der gute Scheck wieder auf Lager hat.»

2019 veröffentlichte Scheck unter dem Titel «Schecks Kanon» eine Zusammenstellung von 100 wichtigen Werken der Weltliteratur.


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