25.06.2002

Plauderei aus dem Jury-Nähkästchen von Cannes

In seinem hier ungekürzt wiedergegebenen Beitrag für Advertising Age erzählt der Amerikaner Mike Hughes, President/Creative Director von Interpublics The Martin Agency in Richmond, von seinen Erlebnissen und Erfahrungen in Cannes, wo er als Juror in der "Print & Outdoor"-Kategorie fungierte. Im Mittelpunkt von Hughes Ausführungen steht die Frage, warum die Anzeigenkampagne für den Urlaubspaketanbieter "Club 18-30" den Grand Prix eigentlich gar nicht verdient.
Plauderei aus dem Jury-Nähkästchen von Cannes

Mir war schon zu Ohren gekommen, dass mit der Awards-Präsentation in Cannes ein wenig übers Ziel hinausgeschossen würde. Was so nicht ganz stimmt: Es wird weit übers Ziel hinausgeschossen. Zwei unwahrscheinlich hoch und schlank gewachsene Models in aalglattem Outfit assistieren bei der Präsentation. Dieselbe wird über Grossbildschirme in alle möglichen Richtungen hineinprojiziert. Dazu ohrenbetäubende Disko-Musik. Der Zeremonienmeister trägt seinen allerbesten Smoking.

Zu Beginn der Show paradieren meine Mitjuroren und ich die von beiden Seiten herabführenden Laufstege herunter. Das grelle Licht macht es uns schwer, das Publikum in dem opernähnlichen Rund des Theatersaals auszumachen. Alsdann schickt man uns zu unseren Sitzen unten im Zuschauerraum. Leider haben wir Null Ahnung, wo sich unsere Sitze befinden. Ich schaue nach rechts, ob mir vielleicht jemand helfen könnte; und bemerke dabei, dass ich nur ein paar Zollbreit von einem jener Models entfernt bin, die mit einer so unglaublich grossen, schlanken etc. Figur daherkommen. Das Girl ist einfach umwerfend. Ich frage (in einem Kauderwelsch aus halb Englisch, halb Französisch und halb sonst irgendwas) nach dem Weg zu meinem Platz: "Seatsy, sitesy, suitsy....". Sie lacht mir mitten ins Gesicht - und ich stolpere dabei von der Bühne.

Was für das Festival von Cannes gilt, gilt auch hier: die Show selbst ist unglaublich effizient organisiert. Noch bevor wir unsere Sitze überhaupt gefunden haben, werden die Sieger in der Poster-Disziplin schon bekannt gegeben. Hut ab vor den Organisatoren und deren Mitarbeitern, schaffen sie es doch, gleichzeitig mit einem ganzen Dutzend von Bällen in der Luft herumzujonglieren, ohne dass dabei auch nur ein einziger auf den Boden fällt. Cannes ist nun mal eine gut geölte Maschine, alles läuft wie geschmiert: Poster, Media-Awards, Print. Man hatte mich schon vorher gewarnt, dass die Zuschauer jedes Mal, wenn die Kür auf einen unpopulären Preisträger fallen sollte, mit einem Pfeifkonzert reagieren würden. Tatsächlich kamen aber nur wenige Buhrufe aus dem Publikum. Eigentlich schade, und ich war deswegen auch enttäuscht.

Der Presse Grand Prix

Ganz besonders enttäuscht bin ich wegen der Kür einiger Preisträger, vor allem der für den Grand Prix in der Print-Werbung, der Presse-Kategorie in Cannes. Eine Kreation, die nach meinem Geschmack unheimlich nach Primarschule riecht (doch mehr dazu später). Was mich aber noch mehr ärgert, sind die Kreationen, die es gar nicht bis aufs Siegerpodest geschafft haben. So bin ich denn auch überzeugt, in diesem Punkt recht zu haben: So wie ich es sehe, haben nur drei oder vier Gold-Löwen-Gewinner wirkliche Headlines. Höchstens ein einziger kommt überhaupt mit Fliesstext daher. Die überwiegende Mehrzahl wartet statt dessen mit irgendeinem visuellen Gag und einem Logo auf. Vielleicht gibt es sogar eine Schlusszeile als Tagline, oder eine Web-Adresse, aber das wär's dann auch schon.

Dass mich bitte keiner falsch versteht: Einige dieser Auftritte sind unheimlich gut und ihre Kreatoren sollten dementsprechend auch belohnt werden. Aber gleichzeitig sind sie mit Sicherheit um nichts origineller oder frischer oder provokativer als die besten Anzeigen mit Textteil. Nehmen wir die von Carmichael Lynch für Harley Davidson zum Beispiel. Diese Kreationen (für die Kult-Motorradmarke) haben nicht für nichts und wieder nichts bei den Kelley Awards gewonnen: Sie sind unglaublich stark geschrieben, wohl durchdacht und machen einfach Spass. Ich selbst war von den Anzeigen, die Team One für den Lexus (das Luxusmodell von Toyota) gemacht und im Wall Street Journal platziert hat, so beeindruckt, dass ich dem ganzen Team spontan eine Glückwunschbotschaft geschickt habe. Diese Leute hätten Gold verdient. Dann gibt es da auch noch die Kreationen von der schwedischen Agentur Ecpat in Stockholm. Eine Print-Kampagne, die auf das Unwesen der Kinderpornografie aufmerksam macht und einen buchstäblich vom Hocker reisst. Genau die sollte, überall wo sie als Nennung auftritt, mit dem Top-Preis nach Hause gehen.

Der Gag mit dem Sex

Doch bei all' denen handelt es sich nun einmal um Anzeigen, die auf Worte bauen - und vielleicht ist es ja zuviel verlangt, wenn man von einer internationalen Jury erwartet, dass sie sich von Worten in irgendeiner Sprache berühren oder bewegen lässt. Was die Preisrichter hier bewegte waren jene Dinge, mit denen es in jeder Sprache läuft: visuelle Gags, vor allen Dingen natürlich Gags über Sex.

Vor einem Dutzend Jahren oder so war ich einmal Mitglied im Vorstand des One Club von New York. Damals bereitete uns die Möglichkeit Sorge, dass die Show selbst billiger werden würde, wenn wir es zuliessen, dass unerhörte Anzeigen-Kampagnen für fragwürdige Kunden mit einem überproportional hohen Anteil der Spitzenauszeichnungen geehrt würden. Ganz nebenbei gesagt sind diese Anzeigen, für sich genommen, gar nicht mal so schlecht. Viele der besten Texter und Art Directoren der ganzen Branche haben zuerst einmal gezeigt, was sie so alles mit Poster-Werbung für eher unerwartete Kunden mit kleinem oder überhaupt keinem Werbebudget machen können. Bei den Gründern der Agentur Fallon finden sich in den Präsentationsmappen Arbeiten für einen kleinen Angler-Shop wieder, wo man Köder kaufen kann. Einge der heutigen Stars von Goodby (Silverstein & Partners in San Francisco) gaben ihren Werbeeinstand mit Anzeigen für Bullensperma; und die Reputation von The Martin Agency gründet sich zumindest zum Teil auf Werbung für einen Tattoo Parlor - ein Tätowierungsstudio -, ein Pfandgeschäft und für mehr als nur ein wenig bekanntes Museum.

Das Problem des One Club löste sich wie von selbst. Die grösstenteils amerikanischen Juroren lassen inzwischen eine unglaubliche Härte gegenüber Werbung walten, bei denen man das Gefühl nicht loswird, dass sie einem privaten Kreativanliegen förderlich sein sollen. Derlei Kreationen sind ganz einfach aus der Mode gekommen. Kreative in den USA gehen mittlerweile ein wenig pingelig mit der Vorstellung um, dass man sie mit Werbearbeit in Zusammenhang bringen könnte, die unreal anmutet - so als würde gar kein Werbetreibender als Sponsor dahinter stehen.

Das ist, zumindest zum Teil, aber auch eine richtige Schande. Denn Kreative jeglichen Alters können nur davon profitieren, wenn sie hin und wieder ihre Muskeln weit über den Normalradius hinaus bei Projekten anspannen, die nicht der tagtäglichen Druckbelastung der Welt des Realen unterliegen. Für die meisten von uns ist es doch so, dass die Aufgabe, Werbung zu kreieren, mit einem Hürdenlauf verglichen werden kann. Die Hürden, die es dabei zu überwinden gibt, heissen Strategie, Agentur, Budget, Zeitplan, Kreativdirektor, Kunde und Vorgehensweise. Und kaum, dass man eine geschafft hat, kommt auch schon die nächste. Wie wunderbar befreiend ist es dann, wenn man die meisten Hürden beiseite geräumt hat und dabei sieht, was man selbst alles leisten kann. Man fühlt sich frei, an einer Idee zu arbeiten und werbehandwerkliche Kunst in Form von Text und Gestaltung auszuüben.

Was daraus entsteht, ist wertvolle Werbepraxis für jeden. Zwar mögen die Kreativ-Awards den Ansporn für solche Arbeit liefern, aber die wahren Gewinner sind die zahlenden Kunden, denen auf diese Weise ein selbstsichereres, energievolleres und höher inspiriertes Kreativ-Team zur Seite steht - ein Kreativ-Team, wohlgemerkt, dem die Arbeit Spass und Freude bereitet.

'Praktische' Werbearbeit in Cannes

Die gute Nachricht: Praxisgerechte Werbearbeit ist in Cannes lebendig und ihr geht es gut. Der Rest der Welt wird in puncto Werbemachen immer besser, weil junge Kreative ausserhalb der USA die tatsächlichen (oder imaginären) Marketing-Erfordernisse von Piercing-Studios, Sex-Clubs und Heimtierfriedhöfen mit grosser Kraft und Vorstellungskraft in Angriff nehmen. Die schlechte Nachricht: Diese Art Werbung dominiert auch die Kreativ-Show von Cannes. Kreationen dieser Couleur sind hier nicht etwa nicht "in", sondern das Gegenteil ist der Fall: mit grosser Vehemenz werden sie unterstützt und gefördert. In den Augen der meisten Juroren ist alles andere altbacken und unmodern. Klassische Werbearbeit, vor allem klassische Werbearbeit aus den Vereinigten Staaten, wird ganz einfach abgetan - egal, wie überzeugend ihr Verkaufsargument, wie brilliant ihre Art Direction und wie clever ihre Strategie auch immer sein mögen. Werbecopy selbst wird zu einem Indiz für fehlende Imagination. Fliesstext sei langwierig und langweilig, sagen sie. (Ganz nebenbei gesagt: Was kann man über ein Piercing-Studio eigentlich schon sagen?)

Die 'Club 18-30'-Nennung

Die drei in Nordamerika geborenen Preisrichter der Presse-Kategorie (Jeff Goodby, ich selbst und Nancy Vonk aus Kanada) hätten den Grand Prix nie und nimmer einer im Ansatz jeglicher Subtilität baren Kampagne für einen Club verliehen, der kein Hehl aus seinem Versprechen macht, Zielort für junge Leute zu sein, die Sex haben wollen. Jawohl, der Auftritt ist unglaublich gut auskalkuliert. Ja, auf fast jedem Quadratzoll findet man billige Lacher. Ja, ich würde das dafür verantwortliche Kreativteam ernsthaft in Erwägung ziehen, sollten sie an meiner Tür klingeln und um einen Job nachsuchen. Die Leute sind einfach gut in der kreativen Ausübung ihres Werbehandwerks. (Und ich bin auch nicht der alte Knacker, für den Sie mich vielleicht gehalten haben.)

Aber dafür den Grand Prix? Moment mal. Damit bestätigen wir doch nur die schwärzesten Verdächtigungen, die unsere Kunden gegen uns hegen. Was für uns zählt, ist nur die Antwort auf die Frage, was man uns alles durchgehen lässt. Das einzige, was wir wollen, ist unsere Nase über die Gesellschaft rümpfen und unsere Freunde damit beeindrucken, wie ungemein böse und clever wir doch in unserem ungemein sophistizierten Vorgehen sind. Das einzige Zielpublikum, bei dem wir Eindruck schinden möchten, ist das unserer Gleichaltrigen: Fünfundzwanzig-Jährige mit hochstehenden Haarsträhnen, Wertvorstellungen aus der Schüler- und Studentenzeit und überaktivem Libido.

Meilenweit entfernt

Ist diese (Print-Sieger)-Kampagne etwa cleverer als die für Harley Davidson? Imaginativer als die für den Lexus? Hat sie mehr Power als besagte schwedische, die alle anspricht? Ist sie gar kreativer als irgendeine dieser drei? Beileibe nicht. Sie kann ihnen noch nicht einmal auf eine Meile entfernt das Wasser reichen.

Dass man mich bitte nicht falsch versteht oder interpretiert: Werbung kann sowohl grossartig als auch frech sein. Goodby Silversteins Arbeit für die norwegische Kreuzfahrtlinie (Norwegian Cruise Line: "It's different out here") war beides. Doch gleichzeitig war es auch ein Stück Überzeugung auf eine Art, die "Club 18-30" vermissen lässt. (Okay, okay: Sex als "Komm-schon"-Element kann natürlich sehr überzeugend sein. Doch sollte Neon-Leuchtreklame mit dem Hinweis "LIVE NUDE GIRLS!!!" in Cannes vielleicht doch nicht auf dem allerersten Platz landen.) Die Arbeit von Goodby, Silverstein verdiente die Ehrungen, die sie erfuhr. Die Sex Club-Kampagne von Saatchi & Saatchi mag sich als prima Portfolio-Einlage für einen jungen Art Director eignen - doch sollte sie nicht als das Beste vom Besten in der Werbung präsentiert werden. Ich trug dies der Gruppe (von Juroren) als Argument vor. Andere taten ein Gleiches. Aber umsonst, erreicht haben wir damit nichts.

Werbung made in USA nicht en vogue

Von dem Reporter, der für USA Today über Cannes berichtet, hörte ich über das kursierende Gerücht, dass sich einige Juroren zusammengetan hätten, um die Zahl der amerikanischen Preisträger niedrig zu halten. Ich antwortete ihm, dass in mir ein solches Gefühl überhaupt nicht hoch käme. Dafür aber ein Gefühl, das mir sagt, dass einige jener klassisch amerikanischen Werbestilemenete bei der Mehrzahl der Preisrichter einfach nicht ankommen. (Was sich, nebenbei gesagt, nicht nur auf Werbearbeiten aus den USA bezieht. Man denke nur an die spitzenmässigen Langtext-Anzeigen von Neil French und seinen Mitstreitern in Singapur und Hongkong. Oder an die unglaubliche Power in den Werbekreationen von David Abbott in London.) Aber diese und ähnliche Kreationen hätten bei vielen meiner diesjährigen Preisgerichtskollegen in Cannes kaum irgendwelche Punkt sammeln können.

Die Briten und die Brasilianer


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