25.01.2016

Schweizer Terrorjahre

«Das Risiko war enorm»

NZZ-Redaktor Marcel Gyr hat den ersten Knüller des noch jungen Jahres geliefert. In seinem Buch «Schweizer Terrorjahre» enthüllt er, dass der Bundesrat in den siebziger Jahren ein Stillhalteabkommen mit der PLO schloss. Damit wurden weitere Attentate in der Schweiz verhindert. Drahtzieher war der damalige SP-Nationalrat Jean Ziegler.
Schweizer Terrorjahre: «Das Risiko war enorm»
von Matthias Ackeret

Herr Gyr, in Ihrem Buch «Schweizer Terrorjahre» beschreiben Sie die Rolle der Landesregierung in der Zeit der palästinensischen Flugzeugentführungen. Wie sind Sie darauf gestossen, dass der Bundesrat 1970 mit der PLO verhandelt hatte?
Ich habe sehr viel Zeit im Bundesarchiv verbracht. Dort gibt es ganze Berge von Akten zum Bombenattentat von Würenlingen, bei dem im Februar 1970 alle 47 Insassen getötet wurden. Aus den Akten habe ich mir verschiedene Namen von Zeitzeugen herausgeschrieben. Als ich bereits aufgeben wollte, habe ich noch eine allerletzte Person kontaktiert, die ich von meiner beruflichen Tätigkeit her kenne. Wir haben im Restaurant Volkshaus in Zürich auf einen Kaffee abgemacht. Bei dieser Gelegenheit hat mir die Kontaktperson geraten, ich solle doch mal bei Jean Ziegler anrufen. Das habe ich am 5. März 2015 gemacht und von da an wusste ich Bescheid.

Gab Jean Ziegler Ihnen konkret Auskunft?
Jean Ziegler war von Anfang an "geständig", wenn auch zunächst nur widerwillig. Er machte sich gerade auf den Weg nach Berlin, wo er eine Lesung für sein aktuelles Buch «Rettet die Welt!» hatte. Er glaubte zuerst, ich wolle die Geschichte am nächsten Tag in der NZZ bringen und er versuchte deshalb, mich hinzuhalten. Ziegler befürchtete wohl, ich vermiese ihm die Lesetournee durch Deutschland und Österreich, wo er jeweils vor vollen Sälen auftrat. Als ich ihm nach seiner Rückkehr beibringen konnte, vorläufig passiere gar nichts, die Recherche sei mittelfristig für ein Buchprojekt angelegt, wurde er gesprächiger. Aber noch immer betonte er fast in jedem zweiten Satz, die Verantwortung habe alleine Bundesrat Pierre Graber getragen. Er selber habe bei der ganzen Geschichte nur eine untergeordnete Rolle gespielt.


War aus Ihrer Sicht das damalige Verhalten des Schweizer Aussenministers Graber ehrenrührig?
Das müssen andere beurteilen, für das gibt es genügend Staatsrechtler, Politologen und Zeithistoriker. Als Reporter sehe ich das so: Die PLO war damals, im Gegensatz zu heute, eine terroristische Organisation. Ihre diversen Kommandogruppen befanden sich im asymmetrischen Krieg mit Israel und deren westlichen Verbündeten - die Fatah ausschliesslich gegen israelische Ziele, andere wie die PFLP auch gegen westliche Ziele. Auf ihr Konto gingen in dieser Zeit Dutzende von Attentaten mit Hunderten von Toten. Die Opfer wurden nicht geköpft, aber immerhin in die Luft gesprengt. Jean Ziegler betont, es sei seine Kunst gewesen, mit Farouk Kaddoumi genau jenen Vertreter der PLO zu identifizieren, der sich einzig mit diplomatischen Mitteln für die palästinensische Sache einsetzte. Trotzdem: Das Risiko, das Bundesrat Graber eingegangen ist, war enorm. Meiner Meinung nach machte er sich mit dem Stillhalteabkommen erpressbar. Das kleinste Leak von palästinensischer Seite hätte genügt, und Herr Graber wäre am nächsten Tag nicht mehr Bundesrat gewesen.

Warum?
Der Widerstand in der Schweizer Bevölkerung gegen die PLO war enorm, was angesichts der Anschlagsserie von damals nicht weiter erstaunt. Deshalb musste ja der erste Vertreter des PLO-Büros in Genf als Journalist getarnt werden. Dies ging übrigens auf den Vorschlag eines welschen Pfarrers zurück, der zwischen der PLO und der Schweiz vermittelte. Bundesrat Graber hielt noch viele Jahre an dieser Lüge fest, es handle sich bloss um einen Journalisten – sowohl gegenüber einer Nationalratskommission wie auch gegenüber der Öffentlichkeit.    

Wieso ist dies bis heute unbekannt geblieben? Es gab doch sicher noch andere, die davon wussten. 
Jean Ziegler sagt, er habe Angst gehabt. Er habe Retorsionsmassnahmen von israelischer Seite befürchtet, falls die geheimen Verhandlungen bekannt würden. Tatsächlich sind aus dem Bekannten- und Freundeskreis von Herrn Ziegler zwei palästinensische Funktionäre ermordet worden. Mit einem von ihnen hatte er zuvor gemeinsame Ferien in Tunesien verbracht. Wie geheim das Ganze ablaufen musste, illustriert die Tatsache, dass Bundesrat Graber mit Ziegler auf einem Pissoir im Bundeshaus Kontakt aufnahm. Es schien ihm der einzige abhörsichere Ort zu sein. Es waren keine diplomatischen Sandkastenspiele, die sich im September 1970 abspielten, man bewegte sich auf einem Minenfeld mit Akteuren, die zu allem entschlossen waren.  

Welchen Preis zahlte die Schweiz, dass die PLO keine Attentate mehr auf unser Land verübte?
Der Preis mag auf den ersten Blick nicht sehr hoch gewesen sein, er bestand in der Einrichtung des (versteckten) PLO-Büros in Genf. Die Geschichte hat aber zwei Haken: Erstens sass die PLO am längeren Hebel. Das gab sie immer wieder zu verstehen im Sinne von: Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllt, können wir nicht mehr garantieren, dass die Schweiz vor weiteren Anschlägen verschont bleibt. Und zweitens ging das Bedürfnis nach Wahrheit der Angehörigen der Absturzopfer vollständig vergessen. Ruedi Berlinger, der Sohn des abgestürzten Swissair-Piloten, sagte mir schon 2014: Natürlich gehe er davon aus, dass irgendein Deal mit der PLO abgeschlossen worden sei. Aber dann wolle er, verdammt nochmal, in Kenntnis gesetzt werden, wie dieser Deal ausgesehen hat. Damit er wisse, wieso der Mörder seines Vaters strafrechtlich nie zur Verantwortung gezogen worden ist. Es geht also nicht in erster Linie um das Stillhalteabkommen, sondern um die derart lange Geheimhaltung. Es ist zwar schon viel zu spät, aber lieber jetzt die Karten offen legen als gar nie.  

Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?
Der erste Artikel in der NZZ erschien im September 2014. Von da an hat es mich gepackt, und das Thema hat mich nicht mehr losgelassen. Ich befürchte, es lässt mich weiterhin nicht los.

Die Resonanz auf Ihre Enthüllungen ist sehr gross. Hat sich das «offizielle» Bern auch schon gemeldet?
Das «offizielle» Bern wäre etwas hoch gegriffen. Es gibt lose Kontakte, wie man das Thema aufarbeiten könnte. Ich wüsste schon den einen oder anderen Namen, der gegenüber einer Bundesrätin vielleicht gesprächiger ist als gegenüber einem Journalisten.

Schweizer Terrorjahre

Das Buch «Schweizer Terrorjahre - Das geheime Abkommen mit der PLO» von Marcel Gyr ist im Verlag NZZ-Libro erschienen. 



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