18.03.2024

Tamedia

Er prägte die erste Phase der Automatisierung

Er war der erste und vorerst letzte «Head of Newsroom Automation». Nun verlässt Timo Grossenbacher Tamedia. Was die Automatisierung im Redaktionsalltag heute schon leistet und in welchem Verhältnis sie zur KI steht, sagt er im Gespräch mit persoenlich.com.
Tamedia: Er prägte die erste Phase der Automatisierung
Macht sich als Berater selbstständig: Timo Grossenbacher, bisher Head of Newsroom Automation Tamedia. (Bild: Urs Jaudas)

Wenn derzeit überall von künstlicher Intelligenz (KI) die Rede ist und von ihren Auswirkungen auf das Mediengeschäft, dann geht gerne vergessen, dass eine zweite Entwicklung seit jeher parallel dazu verläuft. Weil sie sich nicht trennscharf von der KI abgrenzen lässt, steht die Automatisierung weniger als eigenständige Disziplin im Rampenlicht. Doch im Maschinenraum moderner Medienunternehmen gibt es Fachleute, die sich genau damit befassen. Wie etwa Timo Grossenbacher.

Macht sich als Berater selbstständig

Bei Tamedia trug er in den letzten Jahren den Titel eines «Head of Newsroom Automation», Chef der Redaktionsautomatisierung. Per Ende März verlässt er das Unternehmen und macht sich als Berater selbstständig. Im Gespräch mit persoenlich.com zieht er eine Bilanz seiner Arbeit für Tamedia.

«Ich hatte ein freies Experimentierfeld und durfte Sachen ausprobieren», sagt Grossenbacher. Anfänglich machte er das ganz allein, dann erhielt er einen ersten Mitarbeiter und schliesslich leitete er ein Team mit drei Leuten. Auf diesem Experimentierfeld konnten einige Projekte heranwachsen, die heute ein fester Bestandteil des publizistischen Angebots sind. Zum Beispiel automatisch importierte auf den Websites der Tamedia-Titel publizierte Gemeinde- und Amtsblattmeldungen. «Bei diesem Projekt war der Aufwand klein und das Risiko überschaubar», erklärt Grossenbacher im Gespräch. «Und gleichzeitig nimmt uns diese Automatisierung sehr viel Arbeit ab.»

Weil Behörden immer mehr ihrer Daten via öffentlicher Programmierschnittstellen publik machen, lassen sich amtliche Publikationen mit simpler Automation weiterveröffentlichen. Das geht ganz ohne KI, hat aber – wie beim KI-Einsatz – auch zur Folge, dass sich Handarbeit einsparen lässt. «Das ist die grundsätzliche Verheissung jeglichen Technologieeinsatzes, Aufgaben an Maschinen delegieren zu können», gibt Grossenbacher zu Bedenken.

Maschinen erledigen langweilige Arbeit

Wenn die Maschinen übernehmen, lassen sich damit Menschen einsparen – mit zwei möglichen Folgen: Automatisierung (und KI) erlaubt es den Menschen, spannendere Aufgaben zu machen, wenn ihnen Maschinen die repetitive und wenig kreative Arbeit abnehmen. Oder: Wenn wir Prozesse automatisieren, brauchen wir gewisse Jobprofile nicht mehr. Was bisher drei Personen machten, kann auch eine alleine. So begründete vor einem Jahr Axel Springer einen Stellenabbau bei seinen Mediengruppen Bild und Welt.

Tamedia hat seinen Stellenabbau noch nie damit begründet. Und auch Timo Grossenbacher stand nicht unter Druck, möglichst Anwendungen zu entwickeln, die Personal sparen. Im Zentrum stand für ihn vielmehr der Auftrag, Arbeitsabläufe effizienter und Produkte attraktiver zu machen. Und dazu braucht es trotz Automatisierung und KI weiterhin viele Hände und Augen. So auch bei der auf die einzelne Schweizer Gemeinde heruntergebrochene Berichterstattung über nationale Vorgänge, seien das Abstimmungen oder Wahlen, aber auch statistische Erhebungen. Damit arbeitet Tamedia schon seit 2018. Damals sprach man noch von Roboterjournalismus. Der einstige Trendbegriff wurde vom Hype um KI verdrängt. «Da war schon auch künstliche Intelligenz im Spiel, aber noch keine grossen Sprachmodelle wie ChatGPT», sagt Timo Grossenbacher.

Da sich Automatisierung und KI nicht sauber voneinander trennen lassen, spielte KI bei der Arbeit von Grossenbacher schon immer eine Rolle. So war er auch an der Entwicklung eines KI-Werkzeugkastens («AI Toolbox») für die Tamedia-Redaktionen beteiligt. Eine erste Anwendung besteht aus KI-generierten Vorschlägen für die Teaser-Elemente wie Oberzeile, Titel, Lead von Artikeln, bei denen es schnell gehen muss, etwa für Agentur- und Gemeindemeldungen. «Es geht nicht darum, dass die KI Titel schreibt, sondern Vorschläge macht», sagt Grossenbacher. Die meisten Journalistinnen und Journalisten, die das Tool nutzen, liessen sich einfach inspirieren und formulierten dann ihre eigenen Textelemente, schrieb Grossenbacher in einem Blog-Eintrag, in dem er den Anwendungsfall ausführlich beschreibt.

Eine Viertelstunde pro Artikel sparen

«Wir fragten uns, wo wir mit wenig Aufwand am meisten herausholen können», sagt Timo Grossenbacher. Er beziffert die Zeitersparnis, die sich durch KI und Automatisierung in diesem Fall erzielen lässt, auf bis zu einer Viertelstunde pro Artikel. Letztlich gehe man ein überschaubares Risiko ein, «da die Meldungen meist relativ simpel und kurz daherkommen und der zu kontrollierende Output relativ klein ist», steht weiter im erwähnten Blog-Eintrag.

Dass generative KI wie ChatGPT ganze Artikel schreibt, die dann auch veröffentlicht würden, davon sei man weit entfernt. «Wir nehmen schon auch die Bedenken ernst, die das Publikum hat», sagt Grossenbacher und verweist auf eine Fög-Studie, die zum Ergebnis hatte, dass die Leserschaft KI-Texte nicht goutieren würde. Die automatisch generierten Texte kennzeichnet Tamedia mit einem entsprechenden Hinweis oder gar längeren Erklärungen.

Während sich mit modernen KI-Anwendungen gerade ein grosses Feld öffne, sei bei der «klassischen Automatisierung die Pionierphase abgeschlossen», hält Grossenbacher fest. Das zeigt sich bei Tamedia daran, dass seine Funktion nicht eins zu eins ersetzt wird und es künftig keinen «Head of Newsroom Automation» mehr braucht. Man sucht nun einen «Technical Lead AI and Automation», wo Automatisierung und KI gleichwertig zum Aufgabenprofil gehören.


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