27.08.2015

#20minupdate

"Unsere neue App ist einzigartig im News-Bereich"

Digitalchef Peter Wälty will aus "20 Minuten" eine Social-Media-Plattform machen.
#20minupdate: "Unsere neue App ist einzigartig im News-Bereich"

Herr Wälty, die App ist so teuer wie noch keine in der Schweiz. Eine Million Franken hat die App gekostet. Weshalb ist sie den Betrag Wert?
Damit Sies wissen, sie war noch viel teurer. Eine Million ist einfach der Betrag, den wir verdankenswerterweise aus dem Tamedia-Innovationsfonds erhalten haben. Projekt und Backendprogrammierung unseres Inhouse-Teams sind da nicht eingeschlossen. Auch die Kommunikationskosten nicht. Aber stimmt, das ist ein fettes Teil. Und ob es den Aufwand wert ist, werden wir sehen. Das werden die Nutzer mitentscheiden. Mit Sicherheit aber ist es eine intelligente Investition in die Zukunft der Marke "20 Minute"'.
 
Was genau macht die Applikation so teuer?

Nun, ich kann jetzt ja nicht sagen, dass ich mich das eigentlich auch frage (lacht). Im Ernst: Man muss sehen, dass man im Unterschied zum Desktop bei einer Native-App immer auch die Rendering Engine mitbaut. Und wenn man so viele neue Funktionen, die nicht von bestehenden Libraries unterstützt werden, reinpackt, muss das alles erst mal programmiert werden. Und dann ist die Software natürlich vom Beginn weg multilingual ausgelegt, wir kommen ja gleichzeitig auch mit der französischen Version. Ausserdem beinhaltet die App die Voraussetzungen für weitere geplante Funktionalitätserweiterungen. Und am Schluss können Sie alles mit zwei multiplizieren, denn das muss ja auch auf Android laufen.
 
Sie haben die App unter Beihilfe eines Digital-Projektleiters selbst konzipiert und umgesetzt. Woher nehmen Sie dieses Wissen?
Das ist bestenfalls Halbwissen (lacht). Echt. Die App ist eine Wette auf die Zukunft. Eine Erfolgsgarantie existiert nicht.
 
An welchen internationalen Vorbildern haben Sie sich bei der Konzeption orientiert?
Mein Kollege Mike Herter hat ein grosses News-App-Benchmarking gemacht, das wir uns in der Chefredaktion angeschaut haben. Da war ideenmässig nicht viel los. Einzig bei Circa gefiel uns die Idee mit der vertikalen Portionierung der Inhalte. Wir haben es dann aber doch bleiben lassen, denn wir hätten dazu die ganze Textproduktion umbauen müssen. Nein, wir konnten leider bei den bestehenden News-Apps nirgendwo was klauen. Herter und ich gingen also in Klausur und stellten unsere Ideen anschliessend der Geschäftsleitung, der Chefredaktion und dem Verlag vor. Dann präsentierten wir das verfeinerte Konzept vor dem Digital Board und dem Verwaltungsrat. Beide Gremien haben nach der Präsentation applaudiert. Das hatte ich bis dato so noch nicht erlebt. Und nun, ich würde mal unbescheiden meinen, dass das, was ab Montag im App-Store zum Download bereitsteht, so ziemlich einzigartig ist im News-Bereich.
 
Die ClassicView, der kuratierte Newsfeed, bietet nicht viel Neues. Investiert wurde vor allem in die anderen drei Ansichten. Will "20 Minuten" mit der App künftig mehr Spielwiese als News-App sein?
Mit 3,6 Millionen App-Downloads spielen wir in der Topliga, was die Penetration anbelangt. Wir haben uns gefragt: Ist die Vermittlung von Inhalten wirklich alles, was wir mit den unseren Lesern anstellen können? Dies umso mehr, weil wir ja immer auch intensiv den Rücklaufkanal bewirtschaftet haben. Wir wollen mittelfristig vom reinen News-Provider zu einer Plattform werden. Inhalte werden wohl immer dominieren, nur soll der Leser dabei eine zunehmend wichtigere Rolle spielen.
 
In der PersonalView sortiert der Leser die Inhalte nach seinem Geschmack. Wie wurde das technisch umgesetzt?
Mit einem relativ raffinierten Tagging-System, das unser IT-Team von Grund auf neu konzipiert und programmiert hat. Zusätzlich sind wir gegenwärtig an der Implementierung eines Empfehlungsdiensts, der Leserinteressen von sich aus erkennt und entsprechende Vorschläge macht. Das ist sicher eine zeitgemässe Ergänzung zum Stichwort-System.

Sollten sich alle User anmelden, kennen Sie von 3,6 Millionen Menschen mindestens Name, E–Mail, Geschlecht und Alter. Wie werden die Angaben für die Vermarktung eingesetzt? 
Ein Produkt, das sich an eine klar definierte Zielgruppe richtet mit Targeting zu bewerben, wird schon bald zum Standard werden. Diese Möglichkeit muss man dem Werbekunden anbieten, sonst wandert er ab zu Facebook und Google. Spannend wird aber auch sein, soziodemografische Daten auf Inhalte anzuwenden. Was wissen wir denn eigentlich schon über das Leserverhalten von Frauen? Oder umgekehrt: Von welcher Gruppe werden zum Beispiel Storys über Krankenkassenprämien konsumiert? Eigentlich unglaublich! Aber das hindert auf den Redaktionsstuben kaum einen daran, ein klares Bild von 'seinem' Leser zu haben. Diese Daten werden uns helfen, dieses halbesoterische Bauchgefühl-Geplauder über journalistische Produkte zu überwinden und die Wirkung unserer Inhalte endlich aufgrund von realen Daten einzuschätzen und davon zu lernen. Das wird eine Art Übergang in das Zeitalter der Aufklärung (lacht).

Mit der neuen Applikation investiert Tamedia kräfig in Mobile. Wie viel bringt 20 Minuten auf diesem Kanal ein?
In Relation zum Traffic, der mobile drei Viertel ausmacht, performt der Umsatz nach wie vor unterproportional. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Unser Mobile-Umsatz hat sich in der Year-to-Date-Betrachtung knapp verdoppelt. Das hat er sich übrigens in den letzten drei Jahren jedes Jahr, jeweils ausgehend vom Vorjahresniveau.

In der SocialView werden die Leser auf einer Karte genau lokalisiert. Gibt es da keine Probleme mit dem Datenschutz?
Diese Frage stellten wir uns auch. Deshalb sind wir beim EDÖB vorstellig geworden und haben denen unsere App vorgeführt. Sie haben uns wertvolle Hinweise gegeben, die wir befolgt haben. Einer war, grösstmögliche Transparenz herzustellen bei der Art und dem Zweck der Datenerhebung. Ausserdem kommt die Datenschutzgesetzgebung nur dann zur Anwendung, wenn es sich um Personendaten handelt. Da wir aber Standortdaten weder intern noch extern mit Profilen verknüpfen, handelt es sich nicht um Personendaten und das Ganze fällt somit nicht unter den Datenschutz. Zusätzlich haben wir sowohl Ort wie Zeit auf der Karte 'verrauscht'. Das heisst, es existiert eine beabsichtigte Unschärfe in der Darstellung. Es wird also unmöglich sein, einen "20-Minuten"-Leser anhand der Karte zu tracken. Zusätzlich werden sämtliche GPS-Daten nach 15 Minuten gelöscht.
 
In einer Art Instagram werden künftig auch mehr Leserbilder veröffentlicht als bisher. Nach welchen Kriterien wird selektiert?

Es gibt ein Papier dazu, das umfasst nicht mehr als eine Handvoll rudimentärer Regeln. Wir lassen das vorerst absichtlich mal sehr offen. Die Leser schicken uns längst nicht mehr nur Brände und Überschwemmungen. Unter den Bildern sind teils geradezu poetische Alltagsbeobachtungen oder gelungene Schnappschüsse. In Zukunft werden wir das alles zeigen. Die SocialView soll zum eigentlichen Fotoalbum unserer Leser werden. Das Community-Team hat dabei die Aufgabe, genau diese Foto-Aktivitäten gezielt zu fördern. Da liegt ein gewaltiges Potenzial brach. Nur mal so als Beispiel: Als wir letzte Woche die Leser aufgefordert haben, uns Bilder ihrer schlafenden Katzen zu schicken, erhielten wir in 18 Stunden 2000 Fotos. Oder noch abgefahrener: Als die Community dazu aufrief – bitte fragen Sie mich nicht weshalb – der Redaktion Bilder von Käseplättli zu senden, erhielten wir 120. Manchmal reibt man sich echt die Augen und denkt: Nein, das kann doch nicht sein.
 
Die App bietet News, Social Media, Kommentarfunktion, Fotostream, Live-Fernsehen und diverse Games: Wird der Leser mit der Masse nicht überfordert?
Diese Befürchtung wurde im Vorfeld geäussert. Mal sehen, auszuschliessen ist das nicht vollständig. Wir sind uns auch durchaus bewusst, dass wir uns hier ein Stück weit entgegen dem Trend bewegen, der eher auf auf eine Fragmentierung von Funktionalitäten in Standalone-Apps setzt. Auf der anderen Seite glauben wir, dass wir mit den vier getrennten Views eine Experience anbieten können, die kaum klarer strukturiert sein könnte.

"20 Minuten" will mit der App weg vom Gatekeeping zum Gateopener: Damit brechen Sie mit einem journalistischen Grundprinzip!
Meines Erachtens das Kernthema. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir am Anfang einer digitalen Revolution stehen, die von ihrer sozio-ökonomischen Bedeutung her mit der Industriellen Revolution gleichgesetzt werden kann. Eine Branche nach der anderen wird von einem Strukturwandel in den nächsten geworfen werden. In einer immer höheren Kadenz. Schlimmstenfalls werden sich die Wellen sogar überlagern. Das gilt es nicht einfach zu über-stehen, sondern es gilt zu be-stehen. Denn Veränderung wird in Zukunft nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. Also sollte man versuchen, Bedürfnisse der Kundschaft rechtzeitig zu antizipieren, selbst wenn diese das  bisherige Geschäftsmodell in Frage stellen. Die Bereitschaft, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, existiert bei '20 Minuten'. Das ist mitnichten eine Selbstverständlichkeit und hat viel mit der Leitung des Ladens durchs Marcel Kohler und Marco Boselli zu tun.
 
Vier Views anstatt einer. Das gibt mehr zu tun für die Redaktion. Werden neue Stellen geschaffen?
Geplant ist das nicht. Vielmehr werden Ressourcen verschoben. Das Team Community wird künftig verantwortlich sein für die PlayView. Aber natürlich müssen wir das genau beobachten. Was passiert zum Beispiel mit den Leserbildern? Im Moment erhalten wir so 250 pro Tag. Falls diese Menge rasch ansteigen sollte, müssen wir wohl handeln. In Zukunft ist sicher auch die Pflege, Aktivierung und Reaktivierung der registrierten User ein Thema.
 
Die App sei erst der Anfang, die Schublade randvoll mit Ideen. Was haben Sie in petto?
Als nächstes werden wir unser eigenes Game lancieren, später im Jahr kommt eine Standalone-Community-App. Mit Disney Research Zürich arbeiten wir derzeit an einem weiteren Game, ein Brückenschlag zwische realer und virtueller Welt. Das könnte ziemlich spektakulär werden. Und dann werden wir das bestehende Messaging diskutieren und uns überlegen, ob nicht vielleicht ein echtes One-to-One-Messaging-System einem Bedürfnis entsprechen könnte. Denn mit 3,6 Millionen Downloads sind wir ja eh auf praktisch jedem Smartphone. Wieso sollten die Benutzer also nicht auch gleich über unsere App miteinander kommunizieren können?

Fragen: Michèle Widmer, Bild: zVg.


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