13.06.2012

"Nichts war geplant"

Der Basler Oliver Reichenstein ist eine gewichtige Stimme in der digitalen Welt. Mit seiner Firma Information Architects entwickelt er entrümpelte News- und Websites, die grossen Anklang finden. Erfolge feiert er auch mit einem bestechend simplen Schreibprogramm. Persoenlich.com unterhielt sich mit ihm übers Schreiben auf dem Smartphone, die digitale Macht der USA, Applemania, Dinosaurier und Geparden und neue Projekte seiner Designerbude. Zum Interview:
"Nichts war geplant"

Herr Reichenstein, kürzlich hat Facebook für die unglaubliche Summe von 1 Milliarde US Dollar das kleine Unternehmen Instagram geschluckt. Werden die Information Architects bald von Microsoft geschluckt?

So viel ich weiss, nicht. Wir kriegen Anfragen von Venture-Capital-Firmen, die in den iA Writer investieren wollen. Grundsätzlich interessiert mich das aber nicht besonders. Solange wir im Kundengeschäft, wie auch im Produktbereich weiter so voran kommen wie bisher, ziehe ich die Unabhängigkeit den grossen Millionen vor. Das Produktgeschäft erlaubt es uns, Kunden auszuwählen, das Kundengeschäft erlaubt es uns, das Produkt so zu gestalten, wie wir es für richtig halten, ohne irgendwelchen Trends nachzugehen. Und beide Geschäfte befruchten einander. Nichts von dem war geplant, aber man hätte es nicht besser planen können.

Die Frage hat ja einen ernsten Hintergrund: In der aktuellen Word Version findet sich plötzlich eine Funktion, die dem von Ihnen entwickelten "Focus Mode" (persoenlich.com berichtete) nachempfunden ist. Ist man da als kleine Firma mit 10 Angestellten in Zürich, Berlin und Tokio machtlos?

Man kann aus einem Dinosaurier keinen Gepard machen. Word ist so hoffnungslos aufgeschwollen, da hilft es nichts, wenn sie nun auch einen blauen Cursor und einen Focus Mode anbieten. iA Writer wurde, seit er 2010 erschienen ist, hundertfach kopiert und bisher kaum erreicht. Der Erfolg liegt weniger an den Features, als an der Kombination von Features und der Liebe zum Detail. Selbstverständlich ruhen wir uns nun nicht auf den Lorbeeren aus. Demnächst kommen grössere Updates, mit denen wir die Nachahmer, gross und klein, wieder eine zeitlang hinter uns lassen werden.

Der iA Writer hat sich mittlerweile über 400'000 Mal verkauft. Wo sehen Sie noch Verbesserungspotential?

Wir sprechen nicht über Zukunftspläne. Ich kann nur so viel sagen: Die bisherigen Plattformen wären eigentlich genug wirtschaftlich, aber langfristig wollen wir auch Nicht-Apple-Nutzern Hand bieten, Lust an der digitalen Textverarbeitung zu finden.

Nun gibt es das Schreibprogramm auch für das iPhone. Schreiben die Leute tatsächlich längere Texte auf ihrem Smartphone?

iA Writer für iPhone ist für die Ungeduldigen. Ich brauche den Writer fürs iPhone unterwegs, das heisst, entweder wenn mich ein Text nicht loslässt, oder wenn ich ein Paar Notizen mache für einen späteren Text.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel hat kürzlich in einem Interview darauf aufmerksam gemacht, dass alle relevanten Internetunternehmen ihren Sitz in den USA haben und dass dies auf dem politischen Parkett noch gar kein Thema ist.

Das ist eine Vereinfachung, die aber der Realität näher kommt als man sich wünscht, wenn man den internationalen, englischsprachigen Markt anschaut. In China und Japan beispielsweise haben die amerikanischen Internetprodukte nicht dieselbe Dominanz wie hier. Inwiefern das ein politisches Thema werden muss, kann man nicht in diesem Rahmen beantworten. Die Frage, ob und wie die amerikanische Regierung Zugriff auf unsere Privatsphäre hat und was sie damit anstellen kann, ist eines unter vielen brenzligen Themen, über die man fundiert nur diskutieren kann, wenn man die Thematik technisch und politisch genau versteht. Leider verstehen Leute, die in den Medien porträtiert werden, meistens eher nur einen Aspekt.

Sind die USA bald Herr über alle Informationen?

Warum die Amerikaner das internationale Netz derart dominieren, kann man nicht in zwei drei Sätzen erklären. Ich probiere es dennoch: Amerikaner haben ein anderes Verhältnis zum Unternehmertum. Während man sich in Europa nun Sorgen um Machtverlust und Kulturdegeneration macht, arbeiten die Amerikaner an der nächsten Generation von Internetprodukten. Möglich ist das, weil inzwischen Tech ein Finanzprodukt geworden ist. Man kann sich darüber streiten, wie solide die Unternehmen sind, die mit Venture Capital gebaut wurden. Fest steht: Die Venture-Capital-Industrie trägt viel dazu bei, Designer, Programmierer und Unternehmer im Silicon Valley zu halten. Das Heer an Talenten in San Francisco allein ist für viele Kollegen Grund genug, um nach Kalifornien auszuwandern.

Wer seit mehr als 10 Jahren in der Techindustrie arbeitet, weiss jedoch, dass sich in unserem Bereich schnell alles ändern kann. 1 Milliarde für eine Photosharing-Plattform ist nicht ganz so abwegig, wie manche meinen. Immerhin hatte Instagram 30 Millionen User. Aber wenn man sich anschaut, wie der Facebook-Börsengang verlaufen ist… Dennoch, wenn man den Finanzteil der Zeitungen überfliegt, dann wird man den Verdacht nicht los, dass die vielbeschworene Techblase nicht die einzige ist, die bald platzen wird, und dass man vielleicht besser ins Silicon Valley als in portugiesische Immobilien investiert.

Ich kenne viele, die ihr iPad inzwischen wieder weggelegt haben oder es nur noch hin und wieder für ein, zwei Anwendungen brauchen (siehe auch Umfrage von persoenlich.com). Kommt da nicht bald ein noch leichterer, dünnerer, allgemein kompatibler Tablet-PC, der das iPad einfach wegspült?

Ich kenne die Zukunft nicht, aber leicht wird Apple nicht zu schlagen sein. Die Benutzeroberfläche für iOS kommt vielen Techhipstern leicht veraltet vor, aber das muss kein Nachteil sein. iOS ist heute so etwas wie Windows XP. Es sieht ähnlich aus, fühlt sich ähnlich an und ist ähnlich beliebt.

Steve Jobs ist tot. Sehen Sie ein Ende der Applemania?

Die Aufgabe eines Unternehmers ist weniger, Produkte zu planen, designen und bauen, als ein Team auf die Beine zu stellen, das seine Produkte plant, designt und baut. Nach dreissig Jahren weiss nicht bloss sein Team, was das für Produkte sind, die ganze Welt weiss es. Dass Steve Jobs 40 Jahre gebraucht hat, bis seine Produkte so erfolgreich wurden, wie sie es heute sind, lag nicht am Markt oder an den Produkten. Es lag daran, dass das Team nicht so weit war.

In dem Augenblick, als Jonathan Ive angefangen hat, Apples Produkte zu designen, fing Apple an, Computer zu bauen, die so aussahen, wie es Steve Jobs wollte; in dem Augenblick, als Tim Cook bei Apple das Szepter als CFO übernahm, fing Apple an, die Marktherrschaft und die Produktqualität zu erreichen, von der Steve Jobs seit 40 Jahren geträumt hatte. Und das sind nur zwei Leute aus einem ausgezeichneten Team, die eben wieder gezeigt haben, dass Apple nach wie vor die Firma ist, die sowohl im Hard- wie im Softwarebereich den Ton angibt.

Zum Schluss: Woran arbeiten die Information Architects derzeit?

Die Information Architects haben vor einem Jahr damit angefangen, ihren Hauptsitz von Tokio nach Zürich zu verlegen. Das hat etwas Geduld gebraucht. Nun haben wir dieses Jahr einige neue Kunden in der Schweiz dazugewonnen. Leider darf ich noch nicht sagen wer, aber es sind alles Firmen, mit denen wir sehr gut harmonieren. Für den iA Writer wurde mit iA Labs GmbH eine separate Firma gegründet. Im August ziehen wir in unser Büro in der Nähe des Hardturm-Stadions. Sobald wir in unser neues Büro gezogen sind, werden wir regelmässig Events organisieren. Ich möchte noch nicht zu viel darüber verraten, aber was wir mit den Events vorhaben, wird sich stark von den herkömmlichen Frontalschemata unterscheiden.

Interview: Adrian Schräder, Bild: Marc Eckhardt

Was Oliver Reichenstein zum neuen Online-Auftritt der NZZ zu sagen hat, lesen sie hier.



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