22.10.2015

Ringier

Annäherung an einen bekannten Unbekannten

Frank A. Meyer ist eine der spannendsten Figuren im Schweizer Journalismus.
Ringier: Annäherung an einen bekannten Unbekannten

Herr Meyer, kürzlich waren Sie
 nach vielen Jahren wieder einmal im Berner Hotel Bellevue, in welchem Sie lange 
Zeit residierten. Was empfanden Sie dabei?
Bei solchen Erlebnissen komme ich mir selbst auf die Schliche. Man reservierte mir dieselbe Suite, die für mich viele Jahre ein festes Heim in Bern gewesen war. Im Bellevue hatte ich mein Bundeshaus-Büro. Ich stand also in diesem Raum, schaute durch die hohen Fenster, vor mir die Aare, der Gurten und die Berner Alpen. Da versuchte ich, die Zeitmaschine zurückzudrehen, und fragte das Doppelbett, die Sessel und das Tischchen, ob sie mich noch kennen würden. Sie antworteten nicht. Ein seltsamer Augenblick.

Warum?
Das Experiment ist vollkommen missglückt. Ich realisierte, dass ich kein Talent zum Zurückschauen habe. Ich war zwar da, im Raum der für mich wichtigsten beruflichen Zeit, aber diese Zeit erschien mir nicht, bewegte mich nicht. Bundesbern ist abgelegt. Ich bin kein Mensch, der eintaucht in Erinnerungen.

Wirklich?
Das Leben ist eine Brücke. Wenn man stehen bleibt, ist sie nicht mehr da. Ich mag diese Brücke, weil sie mich zwingt, vorwärtszugehen.

Gab es in Ihrem Leben so etwas wie einen Bruch?

Nein, ich hatte das Glück, dass es bisher keine Brüche gab, nur Übergänge – über die Brücke. 1983 starb zwar viel zu früh mein inniger Freund Willi Ritschard. Aber diesen Verlust habe ich gut verarbeitet. Später starben meine Eltern, ein schmerzlicher, aber ganz normaler Vorgang. Sie wurden beide sehr alt, was mich punkto Lebenserwartung sehr optimistisch stimmt. Wenn ich behauptete, dass ich unglückliche Lebensphasen durchstehen musste, würde ich mich vor dem lieben Gott versündigen.

Es ist doch aussergewöhnlich, dass Sie als junger Journalist einen so guten Draht zu Willi Ritschard hatten. Waren Sie sein inoffizieller Berater?
Das war ich nicht. Wir waren einfach Freunde. Willi war ein grosser Menscheneroberer.

Hat er Sie erobert oder Sie ihn?
Er hat mich erobert, selbst hätte ich es wohl nicht gewagt. Er mochte mich, obwohl ich ihn als Bundesratskandidaten bekämpft und mich für Andreas Gerwig engagiert hatte, einen aussichtslosen linksliberalen Kandidaten, wie sich zeigte. Gerwig stand mir viel näher als der Regierungsrat und Gewerkschafter und gelernte Heizungsmonteur aus Solothurn.

War er Ihnen zu wenig?
Überhaupt nicht. Ich bin gelernter Schriftsetzer, also Handwerker wie er. Willi drohte
 mir, dass er nach seinem Rücktritt aus dem
 Bundesrat alle Artikel, die ich gegen ihn geschrieben hatte, als gebundenes Buch herausgeben würde. Darunter fanden sich einige sehr polemische. Als Willi 1974 gewählt
 wurde, sah ich mich sozusagen seelisch ausserstande, ihn am Wahltag zu interviewen.
 Das musste ein Kollege übernehmen. Am 
ersten Parteitag der Sozialdemokraten nach 
seiner Wahl liess mir Bundesrat Ritschard
 durch Peter Bichsel ausrichten, ich sei ein 
Kamel und solle auf ihn warten. Als er dann 
vor mir stand, sagte er: "Ah, Sie sind das! 
Hans-Peter Tschudi hat mich vor Ihnen gewarnt." Tschudi war sein Vorgänger in der 
Landesregierung und hielt mich offenbar für 
gefährlich. Die Warnung machte mich für Willi Ritschard interessant. Und es funkte zwischen uns. Später kamen andere emotionale Beziehungen in der Politik hinzu.

Freundschaftlich verbunden fühlte ich mich Hans Hürlimann, Leon Schlumpf, Flavio Cotti, Adolf Ogi, René Felber, Jean-Pascal Delamuraz, Alphons Egli. Schon in der frühen Jugend wusste ich: Zuerst kommt die Liebe, dann die Freundschaft, dann der Beruf. Ich habe für den Beruf nie auf Liebe oder Freundschaft verzichtet.

Wann haben Sie Ihr Talent zur Freundschaft entdeckt?

Bereits als 28-Jähriger habe ich Politiker in mein Haus in Schernelz oberhalb von Ligerz eingeladen: Bundesrat Celio, Divisionär Wildbolz und interessante Parlamentarier aus allen Parteien diskutierten dort über aktuelle Themen. Manchmal sassen die Gäste bis in die Morgenstunden bei mir auf dem Teppich. Die Bedingung war nämlich, dass man die Schuhe auszuziehen hatte.

Warum?
Wegen des Teppichs – der war schneeweiss. Das Verfahren schuf Intimität. Wer Pantoffeln trägt, der will nicht nach Hause gehen, weil er sich bereits zu Hause fühlt. Später habe ich die Idee des "Salons" weiterentwickelt und im Grill des Hotels Bellevue zu "dîners-débats" geladen, wiederum Bundesräte und Parlamentarier, als Referenten beispielsweise Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Schmidt. Auch das "dîner républicain", das ich 1974 in Ascona mithilfe von Marco Solari ins Leben rief, geht auf meine Freude an intellektuellen Gastrunden zurück. Heute, nach 41 Jahren, sitzen jedes Jahr Gäste im Park des Castello del Sole an einem einzigen riesigen Tisch – einem republikanischen Tisch als Gleiche unter Gleichen. Die zweitägige Begegnung versammelt Politiker, Kulturschaffende, Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich: Man lernt sich kennen, man lernt das Internationale Filmfestival von Locarno kennen, dem das Diner gewidmet ist, vor allem wird diskutiert über europäische Fragen. Auch ein "Europapreis für politische Kultur" wird ausgerichtet, zum Beispiel an Jean-Claude Juncker oder Donald Tusk oder Jürgen Habermas oder Heinrich August Winkler, dieses Jahr an Mario Draghi – Gerhard Schröder ist dabei, Kanzler Kohl war zu Gast. So was macht mir grossen Spass.

Sie haben die Mächtigen "gekauft" ...
(Energisch.) Wieso gekauft? Ich habe etwas angeboten: politische Kultur. Persönliche Sympathien haben mich nie dazu verführt, falsche Nachsicht zu üben. Wenn es um die Sache geht, kenne ich keine Rücksicht. Ich mag Joe Ackermann, ein wirklich netter Mensch, mit dem ich per Du bin. Doch seine fatale Hinterlassenschaft bei der Deutschen Bank hat mich zu sehr, sehr kritischen Kolumnen im deutschen Monatsmagazin "Cicero" provoziert. Auch Sepp Blatter mag ich, ebenfalls ein liebenswürdiger Bekannter, doch sein verhängnisvolles Regime bei der Fifa habe ich kompromisslos kritisiert.

Haben Ihnen Sepp Blatter oder Joe Ackermann diese scharfe Kritik übel genommen?
Sicher. Joe Ackermann fragte mich: "Warum bist du mein Feind geworden?" Das verstehe ich. Sobald sich ein Mensch verletzt fühlt, egal, ob zu Recht oder zu Unrecht, ist es schwierig, ihn mit der Floskel zu trösten: "Ich musste es tun, es ist meine Aufgabe." Da stossen dann unvereinbare Wahrnehmungen aufeinander, damit muss sowohl der Kritiker als auch der Kritisierte leben. Solche Situationen können sogar Anlass zu Lebensbrüchen werden.

Aber wie waren Sie als Journalist?
Einerseits ausgeprägt analytisch, andererseits auf Wirkung bedacht, wenn nötig auch militant. Ich wollte – ich will! – mit meinem Schreiben etwas verändern. Ich machte deshalb schon früh in meiner Heimatstadt Biel Politik. Da ich aber meine journalistische Arbeit nicht durch die Zugehörigkeit zu einer etablierten Partei belasten wollte, habe ich mit meinem Unternehmenspartner Mario Cortesi eine eigene Partei gegründet, die ich dann führte und im lokalen Parlament vertrat. Damals realisierte ich, dass ich als Redner Menschen begeistern kann. Die "Freien Bieler Bürger", so hiess die Partei, etablierten sich sofort als zweitgrösste Gruppierung, stark in der Regierung, mächtig im Parlament. Für mich war diese Parteizeit sehr wichtig. Sie lehrte mich den Respekt vor den parlamentarischen Institutionen, vor den Bürgerinnen und Bürgern, die sich in der Politik engagieren. Ich verachte deshalb Populisten und Publizisten, die Politik und Politiker verächtlich machen. Die Elite der Demokratie wird gebildet von den Citoyens, die wählen gehen, die sich in Parteien, Kommissionen, Verbänden, Gewerkschaften engagieren. Das ist das Drittel der Bürgerschaft, das sich für die öffentlichen Belange aktiv einsetzt. Wir erleben bei vielen Managern leider gerade eine Entfremdung von der Gesellschaft. Es ist nicht lange her, da fragte ich einen Bankpräsidenten, ob er sich in der Feuerwehr seines Ortes engagiere. Er schaute mich völlig entgeistert an.

Wie ist es Ihnen immer gelungen,
 mächtige Menschen wie später Gerhard 
Schröder oder Joschka Fischer auf Ihre Seite zu bringen?
Ich bin neugierig, auch kühn, ich habe Ideen, ich kann Menschen gewinnen. Das ist meine Kraft, meine Ausstrahlung. Wenn man einen Abend mit mir zusammen ist, geht man nicht mit leerem Kopf nach Hause. Auch mein rhetorisches Talent hilft. Das alles habe ich von meinem Vater, geerbt und gelernt. Da er als Uhrmacher in der Fabrik zu wenig verdiente, musste er am Abend zu Hause arbeiten. Er sass dann an seinem Pültchen, auf dem heute in meiner Berliner Wohnung das Gästebuch liegt, und machte Heimarbeit. Dabei erzählte er von Politik und Geschichte. Ich sass zwischen ihm und meiner Mutter, die ebenfalls Heimarbeit verrichtete, auf einem Kinderhocker und sog alles auf. So lernte ich reden. Vor allem lernte ich, was Wissen bedeutet. Mein Vater erklärte mir: "Was du weisst, kann man dir nicht nehmen." Er war ein Bildungssozialdemokrat – ein Bildungsbürger der Arbeiterklasse.

Trotzdem hatten Sie auch Gegner wie die ehemaligen Bundesräte Stich, Couchepin
 und Blocher.
Pascal Couchepin durchlebte eine neoliberale Phase. Dafür kritisierte ich ihn, obwohl er mir als einer der letzten grossen Freisinnigen im Wortsinn schon immer sympathisch war. Ich habe in dieser Phase gegen Couchepin angeschrieben. Dann kamen 1999 die Bundesratswahlen. Im ersten Wahlgang erhielt ich zu meiner völligen Verblüffung neunzehn Stimmen.

Sie waren geschmeichelt?
Im Gegenteil. Mir war das peinlich.

Wussten Sie, woher die Stimmen kamen?
Von Couchepin-Gegnern. Ich war damals Teil des politischen Komplexes in Bern. Aktiver Teil. Ich nahm Einfluss: mit meinen Kolumnen, aber auch in Gesprächen. Heute würde man von einem Netzwerk reden.

Wen haben Sie gefördert?
Gefördert ist der falsche Begriff. Ich habe Politiker publizistisch begleitet, manche auch für Ideen gewonnen, sie zum Teil sogar begeistert. Daraus ergaben sich Freundschaften, von denen ich einige aufgezählt habe. Ich kann den Bundesräten noch Namen von Parlamentariern hinzufügen: Helmut Hubacher, Andreas Gerwig, Leo Schürmann, Ulrich Bremi, Sergio Salvioni, Franz Steinegger und viele andere mehr. Jetzt werde ich doch noch nostalgisch – es waren wunderbare Begleiter, sogar im Streit, den wir auch immer mal ausfochten.

Zwischen Christoph Blocher und Ihnen herrscht eine legendäre Feindschaft.
 Woher stammt diese?

Feindschaft? Das würde Emotion voraussetzen. Die fehlt in diesem Fall völlig.

Der Schriftsteller Thomas Hürlimann
 hat Sie im Roman "Der grosse Kater"
 als graue Eminenz beschrieben. Können
 Sie mit dieser Beschreibung leben?

Die Beschreibung ist schmeichelhaft. Hürlimanns Frank-Figur verkörpert allerdings den Opportunisten im Romangeschehen. Opportunismus werfen mir aber nicht einmal meine schärfsten Kritiker vor. Insofern handelt es sich eben doch um eine Kunstfigur. Vielleicht war Thomas in jener Zeit ein bisschen irritiert über meine herzliche Beziehung zu seinem Bundesratsvater. Wir sassen oft im Bellevue und diskutierten über das Leben, die Liebe und die Politik, manchmal bis in den Nachmittag hinein. Für diese Stunden bin ich Hans dankbar. Und sein Sohn, der sprachgeniale Dichter, ist inzwischen ein herzlicher Freund.

Im Ringier-Verlag haben Sie diese Funktion der grauen Eminenz auch.

Ich war publizistischer Leiter des Hauses, Mitglied der Konzernleitung, heute versehe ich noch das Amt des Präsidenten der Hans-Ringier-Stiftung. Vielleicht war meine "Funktion", wie Sie es nennen, einfach mein Engagement im Verlag für den Journalismus, wie mein Engagement im Bundeshaus für die Politik. So bewirke ich Dinge oder verhindere ich Dinge, vor allem wirke ich mit bei Dingen. Weil diese Kraft tief in mir wurzelt, ist meine Funktion auch schwer in eine Hierarchie einzugliedern. Das Glück des Menschen ist seine Einzigartigkeit. Er muss sie nur entdecken und pflegen. Jeder trägt sie in sich.

Michael Ringier hat einmal gesagt, dass die deutschen Journalisten besser seien als die unsrigen. Würden Sie dies immer noch unterschreiben?
Der Unterschied zwischen deutschem und Schweizer Journalismus entspricht etwa dem Unterschied zwischen der Schweizer Nationalliga und der deutschen Bundesliga. Mündlich wie schriftlich sind die Deutschen eloquenter im Umgang mit der Hochsprache, die zwar auch unsere Landessprache ist, aber doch immer wieder aus der Mundart übersetzt werden muss. Auch ist das handwerkliche Verständnis des Journalismus in Deutschland ausgeprägter. Aber die Differenz verringert sich seit einiger Zeit. Wie ja auch im Fussball gibt es einen regen Austausch der "Spieler".

Betrachtet man rückblickend Ihr Leben,
 so hätten Sie aufgrund Ihrer Interessen eigentlich einen anderen Verlag als Ringier wählen müssen.
Überhaupt nicht. Intuitiv habe ich den richtigen Weg gewählt. Ich habe mich nie um einen Job oder um eine Funktion in einem Verlag beworben, eigentlich ist mir vieles zugefallen. Stellen Sie sich vor, mein Lebenslauf hätte mich zu Tamedia oder zur NZZ geführt. Ich hätte mich dort gar nicht entwickeln können. Mein Charakter hat etwas Unbändiges. Das braucht Raum – Freiheit, Ungebundenheit. In mir rumort das anarchische Gen meines libertär-sozialistischen Vaters. Ich ruhe in meiner Unruhe. Unruhe ist ein zentraler Begriff des Uhrmacher-Metiers: Die Unruhe treibt die Uhr an. Mein Berufsleben ist geprägt von zwei Menschen: Mario Cortesi und Michael Ringier. Michael Ringier ist eine singuläre Figur, ich bin eine singuläre Figur. Zwischen uns stimmts.

Aber er ist ja vollkommen anders aufgewachsen als Sie.

Und das wissen wir beide: Ich komme aus einer bescheidenen Arbeiterfamilie, er kommt aus einer reichen Grossbürgerfamilie. Klassenbewusste Arbeiter konnten schon immer mit Grossbürgern. Man soll nichts sein, was die persönliche Geschichte verleugnet und verbiegt. Ich wollte journalistisch immer breit wirken. Der "SonntagsBlick" ist für mich der massgeschneiderte Titel. Ich schreibe dort in derselben Sprache wie für "Cicero", das intellektuell hochklassigste deutsche Magazin von Ringier. Die Kraft der "SonntagsBlick"-Kolumne hat zu tun mit der Breitenwirkung dieser Wochenzeitung. Sie zwingt mich zu einer glasklaren Sprache, also zu einem glasklaren Denken. Ich halte es mit dem Freiheitsphilosophen Karl Popper, der den Zwang zum klaren Formulieren forderte. Auch er hatte ein Handwerk gelernt: Tischler. Darauf war er nicht nur stolz, er fand die Lehre auch sehr bedeutsam für sein philosophisches Denken.

Sie haben kürzlich im Ringier-Pressehaus zu einem verbalen Rundschlag ausgeholt und 
die Reduzierung der Löhne der Chefredaktoren um die Hälfte gefordert. Wie kam dies an?
Auf Einladung von Marc Walder habe ich an ausgesuchten Beispielen Kritik geübt. Ohne
 Rücksicht. Aber auch spassig. Die Aussage, 
die Sie ansprechen, war eine Pointe, über die
 alle lachten, auch die Chefredaktoren. Der 
"Tages-Anzeiger" hat Stellen aus meinem Auftritt abgedruckt. Schwarz auf weiss entfällt
natürlich der kollegiale Ton, der Humor, das
 Lachen. Eine Frage ist zu stellen: Wäre solch
 offene Selbstkritik möglich bei der NZZ oder beim "Tages-Anzeiger"? Ich glaube nicht. Doch beide hätten es genauso nötig.

Wie beurteilen Sie die heutigen 
Journalisten?

Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele junge Textproduzenten es wagen, sich als Journalisten zu bezeichnen. Der Ausdruck "Kindersoldaten" wäre viel besser. Die Netz-Medien haben den Beruf inflationiert. Voraussetzung für guten Journalismus ist Bildung, nicht Wissen, das man im Netz abruft, wobei ich gegen Letzteres gar nichts einzuwenden habe. Bildung ist mehr als Wissen, weil sie das Wissen in einen Sinnzusammenhang zu stellen vermag. Bildung ist dreidimensional: Ereignisse, Entwicklungen oder handelnde Personen erhalten durch den Journalisten geschichtliche Tiefe, thematische Breite und Bedeutungshöhe – werden also gewissermassen dreidimensional. Der Journalist ist Skulpteur, eine Art Bildhauer. Er macht die Wirklichkeit begreifbar. Wenn Sie die erste Silbe streichen, heisst das: greifbar. Sehen Sie, da bricht wieder der Schriftsetzer durch: Die Wörter und Sätze waren damals, als ich den Beruf lernte, in Blei gegossen und damit greifbar. Auch Poppers Tischlerarbeiten waren greifbar. Vielleicht sollten Journalisten ein Handwerk lernen, bevor sie sich in den Hörsälen herumtreiben.

Wie beurteilen Sie von Ihrer Berliner Warte aus die Schweizer Medien?

Das Schweizer Fernsehen und das Schweizer Radio sind sehr respektabel. Das "Echo der Zeit" des Deutschschweizer Radios ist international preiswürdig. Es imponiert mir zudem, mit wie wenig Lesern und Geld in der Schweiz gute Zeitungen gemacht werden. Die Schweizer Presselandschaft ist ein Wunder.

Wird man im Alter versöhnlicher?
Im Gegenteil. Meine Bürgerlichkeit drückt sich in meinem Denken und Schreiben radikaler aus als früher. Für mich ist das bürgerliche Projekt das wirklich radikale Projekt der Geschichte: Seine Finalität ist die Freiheit, indem es die gesellschaftliche Entwicklung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum ermöglicht. Das ist ein gewaltiger Anspruch. Immer wieder suchen Ideologen 
nach Heilslehren wie Marxismus, Neoliberalismus, neuerdings Digitalismus mit Google-
Gott aus dem Silicon Valley, dem neuen Jerusalem.

Im Herzen Sind Sie also ein Revolutionär?
Nein, ein Revolutionär war ich nie. Mein Vater predigte immer: Viele Reformschritte ergeben eine Revolution. Revolution statt Reform führt ins Chaos. Im Chaos setzen, ganz nach Nazi-Staatsrechtler Carl Schmitt, die Mächtigen das Recht.

Sie waren mit Ausnahme der "Woche" nie aktiver Chefredaktor.

Der Chef-Job entsprach nicht meinem Temperament. Ich wusste immer, was ich kann. Chefredaktor kann ich nicht. Ich bin, was Redaktionen betrifft, ein Animator: Ich komme rein und entwickle im Gespräch zehn Ideen, wovon drei realisiert werden, die anderen werden aufgeschoben oder gar verworfen.

Haben Sie auch Fehler gemacht? 
Und was war Ihr grösster?

Ich war ungerecht zu Menschen. Und ich habe mich nicht immer dafür entschuldigt.

Wie sieht eigentlich ein Frank-A.-Meyer-Tag in Berlin aus?

Heute Morgen bin ich um halb fünf aufgestanden, auf die Dachterrasse gestiegen, habe den Mond betrachtet, meinen ersten Kaffee genossen. Im Sommer gehe ich täglich – ja, täglich, heldenhaft! – zwischen fünf und sechs Uhr schwimmen, im Hochsommer sogar vor fünf Uhr, eine halbe Stunde, im Schlachtensee. Strenges Rückenschwimmen wegen meiner empfindlichen Wirbelsäule. Wenn das Wasser zu kalt wird, walke ich in der Morgendämmerung vierzig Minuten, zum Lietzensee und zurück. Dann kaufe ich die Zeitungen, hole die NZZ aus dem Briefkasten und lese. Später sitze ich mit Lilith im Café Manzini in Wilmersdorf, treffe Freunde zum Gespräch, schmökere in der Buchhandlung, kaufe ein fürs Abendessen. Nach der Siesta lese oder schreibe ich. Der Abend ist oft Begegnungen gewidmet, zu Hause oder in Lokalen, die mir ein bisschen Heimat sind: das Borchardt, das Cassambalis, die Paris Bar, San Giorgio, Tre oder Adnan, wo ich einen Stuhl mit meinem Namen habe. Ich darf sagen, ich bin in Berlin angekommen.

Noch ein allerletztes Wort: Was sagen 
Sie zum geplanten Joint Venture von Ringier, der SRG und der Swisscom?

Lieber Herr Ackeret, zum aufgeregten Herrn Supino habe ich nichts mehr beizufügen. Da ist alles gesagt. Ich bin ja tatsächlich in Berlin, um Distanz zu haben. Was den "Verleger-Konflikt" betrifft: Medienunternehmen sind mal Konkurrenten und mal Verbündete. Unser Interview ist glücklicherweise nicht auf die unmittelbare Aktualität ausgelegt, sondern aufs Grundsätzliche und Persönliche. Das ist seine Exklusivität.

Interview: Matthias Ackeret, Bild: Antje Berghäuser, Fotochefin Cicero


Das vollständige Interview finden Sie in der Oktober-Ausgabe des "persönlich"-Magazins.



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