08.03.2014

Ruedi Leuthold

"Brasilien ist in vielem ein Land vor der Aufklärung"

Bald wird Brasilien in den Fokus der Weltöffentlichkeit rücken: Das Land, in dem wie in keinem anderen die Spielfreude zelebriert wird, ist Austragungsort der diesjährigen Fussball-Weltmeisterschaft. Brasilien ist aber noch viel mehr: Ein Land von gigantischer Grösse, gigantischem Potential, archaischen Strukturen und zig Realitäten. Der Luzerner Journalist Ruedi Leuthold, seit Jahren in Rio de Janeiro wohhaft, hat dazu ein hervorragendes Buch geschrieben.
Ruedi Leuthold: "Brasilien ist in vielem ein Land vor der Aufklärung"

Herr Leuthold, Ihr Buch ist zum richtigen Zeitpunkt erschienen: In "Brasilien – Der Traum vom Aufstieg" (Verlag Nagel & Kimche) versuchen Sie, pünktlich zur Fussball-WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016, die Funktionsweise Brasiliens zu beschreiben. Werden diese Anlässe Ihrer Meinung nach dafür sorgen, dass das Land seine Stellung verbessern kann?
Es war bestimmt die Absicht der brasilianischen Regierung, der Welt und auch der eigenen Bevölkerung zu zeigen, dass das Land zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht geworden und fähig ist, solche Grossanlässe durchzuführen. Paradoxerweise führen die modernen Fussballstadien, welche die Regierung baute, der Bevölkerung vor Augen, wie rückständig das Land in vielen anderen Bereichen noch ist. Viele Infrastrukturprojekte, die von der Regierung auf die WM hin versprochen wurden, werden nicht fertig oder bestehen nur auf dem Papier. In Rio de Janeiro ist es, im Hinblick auf die Olympischen Spiele, etwas anders. Die Hoffnung ist gross, dass die vielfältigen städtebaulichen Anstrengungen dazu beitragen, die Transportprobleme zu verbessern und soziale Unterschiede zu verringern.

Für Ihr Porträt haben Sie das Land von Norden bis Süden bereist. Sie waren mit dem Gerichtsschiff im Amazonasgebiet unterwegs und bei den Rinderherden im Pantanal. Wie haben Sie Ihre Gesprächspartner ausgesucht?
Wie immer. Man sucht Menschen, die etwas zu erzählen haben und deren Geschichte auf die eine oder andere Weise beispielhaft ist.

Weitgehend ausgeklammert bei Ihren Betrachtungen wir der Wirtschaftszweig Tourismus. Wie wichtig ist er für Brasilien und wie gut sind die Brasilianer als Gastgeber?
Die kleine Schweiz hat mehr Besucher als das Riesenland Brasilien. Das bedeutet, dass das Potential des Landes mit seiner vielfältigen Geografie überhaupt nicht ausgeschöpft ist. Es fehlt an Infrastruktur, die Hotels sind teuer und das Personal ist wenig ausgebildet. Es gibt kaum ein Bewusstsein für eine professionelle Dienstleistung, und deshalb wird man immer wieder überrascht, entweder von der fast familiären Wärme, mit der man empfangen und behandelt wird, manchmal aber auch von einer schon fast kühnen Unverschämtheit.

Ich habe Brasilien in den letzten 15 Jahren mehrfach bereist. Aus der wahrscheinlich überhaupt nicht repräsentativen Optik des Touristen hat sich dabei einerseits einiges getan: Die Leute scheinen mir, zumindest an Verkehrsknotenpunkten, heute viel eher bereit auf meine Bedürfnisse einzugehen, Aussprachefehler zu verzeihen, kommunikative Brücken aufzubauen. Andererseits ist es auch in Metropolen wie Rio oder São Paulo noch immer praktisch unmöglich ein englisches Buch oder eine anderssprachige Zeitung  zu erwerben. Das Ausland wird bewusst ausgeblendet. Wie sehen Sie das?
Brasilien ist ein reiches und grosses Land, und es genügt sich selber. Darin ist es mit den USA vergleichbar. Aber die USA haben einen Krieg gegen ihre Sklavenhalter geführt. Brasilien war das letzte Land, das die Sklaverei abschaffte, und die Macht der Aristokratie, mit ihr die Mentalität von Sklavenhaltern und Sklaven lebt weiter. Brasilien ist in vielem ein Land vor der Aufklärung, voller ungeklärter Beziehungen, voller unerklärlicher Aengste, und die spiegeln sich auch im Verhältnis zu den Besuchern. Leider haben auch die linken Regierungen in den vergangenen bals zwölf Jahren wenig dafür getan, das Bildungssystem zu verbessern und damit für die Mehrheit der armen Bevölkerung so etwas wie Chancengleichheit zu schaffen. Stattdessen verteilen sie grosszügig Sozialhilfe – das erleichtert die Wiederwahl. Aber auch in Brasilien verändert das Internet etablierte Verhältnisse. Die Millionen von Menschen, die im vergangenen Juni auf die Strassen gingen, um gegen Korruption und teure Transportmittel zu protestieren, organisierten sich über die sozialen Medien. Damit entstand nicht nur ein neues Selbstbild – wir sind gar nicht dieses fröhliche, immer nur tanzende Volk, wie man uns immer gesagt hat! Die Internet-Generation pflegt auch den Austausch über die Grenzen, ist offener und selbstbewusst.

Sie beleuchten in Ihrem Buch auch die Politik von Ex-Präsident Lula da Silva kritisch. Sie schreiben etwa: "Brasilien ist ein unglaublich reiches, mit Rohstoffen gesegnetes Land – und vom Idealzustand der Demokratie etwa so weit entfernt wie ein Bordell von einem Kloster". Derzeit ist die von ihm bestimmte Dilma Rousseff an der Macht. Wen bräuchte Brasilien?
Was Brasilien braucht sind tief greifende politische Reformen. Die Bürokratie ist aufgeblasen und korrupt, die Verwaltung ineffizient, die Justiz elitär und teuer. Nur ist niemand in Sicht, der diese Reformen auch durchführen kann und will. Wirtschaftsverbände, mächtige Teilstaaten, traditionellen Eliten, Familienclans, religiöse Gruppen machen ihren Einfluss geltend, und das Programm der politischen Parteien besteht darin, sich eines Teils der Pfründe zu versichern. Es wird wohl noch ein paar Proteste brauchen, bis es eine neue Politikergeneration wagen wird, die Reformen durchzusetzen.

Vom Träumen und von Träumen ist in Ihrem Buch immer wieder die Rede. Die Brasilianer seien Meister darin, schreiben sie. Sind sie nicht auch Meister darin, uns mit ihren Träumen anzustecken? Mich locken immer wieder durch die Musik geweckte Sehnsüchte in das Land. Gleichzeitig habe ich jedes Mal Begegnungen mit Menschen, die mich umwerfen. Begegnungen, die in ihrer Direktheit und Intensität in Europa erst nach Jahren zustande kämen. Ist das etwas, was man, wenn man in Brasilien lebt, immer noch wahrnimmt, oft erlebt?
Je archaischer die gesellschaftliche Organisation, desto grösser die Herausforderung an die individuelle Lebenskunst. Es gibt in Brasilien noch Völker, die in der Steinzeit leben, es gibt die Internetgeneration, es gibt Menschen, die sich nur im eigenen Helikopter fortbewegen, es gibt Millionen, die in Favelas leben, und der Umgang mit all diesen Realitäten und Widersprüchen schafft alle Sorten von Menschlichkeiten und Unmenschlichkeiten. Für Europäer ist es fremd und faszinierend zu sehen, wie leicht die Brasilianer bereit sind, sich dem Augenblick einer Verheissung hinzugeben. Mit der Zeit nimmt man auch die Sehnsucht wahr, die dahinter steckt: der Wunsch, auf irgendeine Weise dabei zu sein, dazu zu gehören, wenn auch nur für die Dauer eines Tanzes, eines Fussballspiels oder eines Karnavals. Und man sieht auch, wie leicht sich diese Sehnsucht durch allerlei Prediger manipulieren lässt, Prediger des Konsums, Prediger eines irdischen oder eines himmlischen Glücks.

In Rio de Janeiro, Ihrem Wohnort und zugleich einem der Austragungsorte der diesjährigen WM und der Olympischen Spiele 2016, finden immer wieder Proteste statt: Gegen die WM, für mehr Bildung, für erschwinglichere Buspreise. Wie beurteilen Sie diese Proteste? Wird sich das Land mit der Fussball-WM versöhnen? Oder ist aller Stolz gewichen?
Wenige Monate nach der WM wird in Brasilien gewählt. Nach den Protesten vom vergangenen Juni lassen sich Politik und Fussball kaum mehr trennen. Wer die Regierung wieder wählen wird, hofft auf den Sieg Brasiliens. Wer gegen die Regierung eingestellt ist, befürchtet, dass Ausschreitungen, Transportprobleme, mangelhafte Infrastruktur dem Image des Landes schaden werden. Sollte Brasilien frühzeitig ausscheiden, werden, so kann man annehmen, auch die Proteste gegen die Regierung zunehmen.

Wie lange dauert Ihr persönliches Projekt Brasilien noch?
Ich lebe lange genug in Brasilien um zu wissen, dass doch alles anders kommt. Deshalb mache ich keine Pläne.

Sie schreiben: "In Brasilien muss ein mittleres Unternehmen 2600 Stunden einsetzen, um seine Steuerformalitäten zu erledigen. In der Schweiz sind es sechzig Stunden." Sind Sie persönlich auch mit dieser ätzenden Bürokratie konfrontiert.
Man lernt, damit umzugehen. Etwas Humor ist immer hilfreich. Hier allerdings lebensnotwendig.

Wie bereits erwähnt, haben Sie für das Buch das fünftgrösste Land von Norden nach Süden bereist. Allerdings endet die Reise auf Höhe von São Paulo. Tut sich weiter südlich nichts?
Leider fehlten mir bis jetzt Zeit und Gelegenheit, den Süden besser kennen zu lernen.

2012 erregten Sie mit dem im der Zeitschrift "Reportagen" publizierten Text "Tagebuch eines Pädophilen" aufsehen. Danach recherchierten Sie eine Geschichte über die Kindstötungen beim Volk der Yanomami, die im Grenzgebiet zwischen Brasilien und  Venezuela leben – und entschieden schliesslich: Daraus entsteht keine Geschichte. Woran arbeiten Sie zurzeit?
Geschichten suchen. Geschichten schreiben. Und jemanden finden, der sie veröffentlicht.

Ein ungewöhnlicher Ablauf! Normalerweise sucht man sich doch, nachdem man glaubt eine Geschichte gefunden zu haben, zuallererst einen Abnehmer.
Es herrscht halt nicht immer ein so grosses Interesse für Brasilien und Lateinamerika wie gerade jetzt vor den Weltmeisterschaften. Das heisst, dass die Aufträge eher spärlich eingehen, und dass man versuchen muss, die Redaktionen für gute Geschichten zu begeistern. Das ist auch nicht immer einfach. Die Geschichte über die skalpierten Frauen am Amazonas wollte keine Frauenzeitschrift veröffentlichen - zu brutal, zu weit von unserer Lebensrealität entfernt, hiess es. Dabei ist es doch, finde ich, die wunderbare Geschichte einer Emanzipation. Ein Buch zu schreiben bot die Möglichkeit, die Geschichte loszuwerden.

Wie lebt es sich im Jahr 2014 als deutschsprachiger Reporter im Ausland? Sind es, wenn schon nicht rosige, wenigstens spannende Zeiten?

Es sind spannende Zeiten. Manchmal anstrengend, und es gibt auch Gründe, sich zu beklagen. Aber draussen vor der Türe gibt es einige, die haben dafür noch viel mehr Gründe, und deshalb kann man das auch gut sein lassen.

Für alle, die träumen möchten: Ihr Musiktipp?
Ich ziehe es vor, ein Buch zu empfehlen: "Mama, es geht mir gut" vom brasilianischen Autor Luiz Ruffato. Es erzählt vom Leben dieser Millionen von Menschen in den städtischen Agglomerationen, die mit ihren Protesten ein anderes Brasilienbild ins Bewusstsein gebracht haben.

Und, die obligate letzte Frage: Wer wird Weltmeister?

Ich sage mal, Brasilien wird es nicht, möchte aber nicht soweit gehen und sagen: Argentinien wird es.

Interview: Adrian Schräder/Bilder: zvg


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