16.11.2015

Terror in Paris

Das fordern die Schweizer Chefredaktoren

Nach den Anschlägen in Paris bemühen sich die Schweizer Medien um Einschätzung.
Terror in Paris: Das fordern die Schweizer Chefredaktoren

"Neue Zürcher Zeitung" - Chefredaktor Eric Gujer
In einem zweispaltigen Kommentar auf der Front spricht Chefredaktor Eric Gujer von einer "neuen Dimension des Terrors". Europa, wer könnte dies noch leugnen, habe ein virulentes Sicherheitsproblem, auf das es keine Antworten finde. Präsident Hollande habe den Fehdehandschuh aufgegriffen und spreche von einem Kriegszustand, in dem sich das Land befinde. Frankreich, das ohnehin schon eines der schärfsten Gesetze zur Terrorismusbekämpfung habe, werde Nachrichtendienste und Polizei ausbauen. Doch das alleine genüge nicht.

Gujer fordert, dass auch die Staaten ihre Anstrengungen verstärken, die wie Deutschland und die Schweiz ihre Sicherheitsbehörden mit Misstrauen betrachten und ihnen nur zögerlich neue Kompetenzen zugestehen. Europa solle ferner den Kampf gegen die Urheber des Terrors in deren Länder tragen und sich mit aller Entschlossenheit im Nahen Osten militärisch engagieren, um den IS zu vernichten. Die enge Verzahnung von Polizei, Nachrichtendiensten und Armee bringe in der Epoche des globalen Jihad die besten Resultate. Die Amerikaner hätten so die Kaida zerschlagen.
 

"Tages-Anzeiger" - Chefredaktor Res Strehle
Zur Besonnenheit ruft hingegen der "Tages-Anzeiger" auf. Nur dann werde der IS seine Ziele nicht erreichen, schreibt Chefreddaktor Res Strehle in einem Leitartikel auf der Front. Die inzwischen allzuleichte Kriegsrhetorik, der sich einige Politiker bedienten, stimme vielleicht für Syrien und den Irak, in Westeuropa sei sie aber verfehlt. "Hier gibt es keinen Krieg, sondern im religiösen Wahn exportierte Gräultaten von Kommandos mit automatischen Waffen und Bombengürteln. Wer einen grausamen Gott oder einen überirdischen Auftrag hinter sich wähne und sich selber als dessen Werkzeug zur Erfüllung sieht, scheint jede menschliche und auch politische Regung zu verlieren. In dieser Hinsicht ähnelten die schrecklichen Taten in Paris eher dem Massenmord von Anders Breivik 2011 auf der nowegischen Ferieninsel Utöya, als dass sie einem politischen Ziel folgten.

"Die Zustimmung zu verschärften Sicherheitsvorkehrungen wird nach diesem Freitag nicht nur in Frankreich, sondern in allen westlichen Staaten deutlich steigen: Dazu werden der aufwendige Schutz von Grossanlässen gehören und - problematischer - mehr Überwachung und die sich abzeichnende Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Zivile Ziele werden laut Strehle angreifbar bleiben. Das sei traurig und mit unendlichem Leid und Unverständnis verbunden. Aber es sei tröstlich, zu wissen, dass es keine radikale politische Organisation und kein Einzeltäter je geschafft hätten, mit solchen Aktionen ihre politische Basis zu verbreitern.
 

"Blick" - Chefredaktor René Lüchinger
"Teil eines Dritten Weltkrieges seien die Anschläge von Paris": "Blick"-Chefredaktor René Lüchinger beginnt seinen Kommentar im Blatt auf Seite vier mit einem Zitat von Papst Franziskus. Der Hinweis auf einen möglichen Dritten Weltkrieg öffne im Westen vielleicht die Augen dafür, was sich in dieser Situation aus dem Zweiten Weltkrieg lernen liesse. Im fünften Kriegsjahr hätten die Alliierten damals beschlossen, inklusive Russland, die Faschisten in Europa durch Härte, Einigkeit und Konsequenz zu besiegen. "Und heute?", fragt er. "Europa ist ein taumelnder Kontinent, unfähig, eine gemeinsame Sicherheits- und Aussenpolitik zu definieren. Unfähig zu erkennen, dass es ohne Russland keinen Sieg über den IS geben kann."
 

"Südostschweiz" - Patrick Nigg, Redaktionsleiter Überregionals
"Europa werde ab sofort nicht mehr derselbe Kontinent sein, werde sich für immer verändern. Die offenen, auf der Respektierung und dem Schutz der Freiheits- und Bürgerrechte jedes Einzelnen aufgebauten Gesellschaften des Westens stünden auf dem Prüfstand. Solches und Ähnliches sei seit den barbarischen Terrorakten in Paris vom Freitag da und dort zu lesen. Wenn dies aber die Reaktion einer europäischen - oder westlichen - 'Wertegemeinschaft' auf die Bluttaten einer Handvoll Terroristen sei, dann sei es eine schwache, ja eine feige Reaktion, schreibt Patrick Nigg, Leiter Überregionales in einem Kommentar in der "Südostschweiz". Eine Reaktion, die einen erschreckenden Mangel an Selbstbewusstsein offenlege. Und obendrein einen erschreckenden Mangel an Bewusstsein dafür, was jede und jeder Einzelne von uns unserer freiheitlichen Ordnung zu verdanken habe. Er fodert mehr Selbstsicherheit: "Die innere Sicherheit ist letztlich dort am grössten, wo sich eine Gesellschaft der Richtigkeit und Gültigkeit ihrer Werte sicher ist."
 

"Der Bund" - Chefredaktor Patrick Feuz
"Dass viele Politiker nach der Ermordung von über 120 Menschen die Sicherheit verbessern wollen, ist richtig, schreibt Patrick Feuz, "Bund"-Chefredaktor in einem Leitartikel. Immer effizienter nutzten Terroristen etwa die Möglichkeiten des Internets - da sei es unverständlich, dass zum Beispiel in der Schweiz dem Geheimdienst immer noch nicht erlaubt ist, bei Verdacht in Computer einzudringen. Wenn mehr Überwachung mehr Sicherheit bringt und die Überwacher ebenfalls kontrolliert würden, sei nichts gegen neue Methoden einzuwenden. "Aber nicht alle Verdächtigen lassen sich rund um die Uhr überwachen, ebenso wenig kann man alle Menschen, die sich im öffentlichen Raum vergnügen, jederzeit beschützen: Niemand will so viel Geheimdienst und Polizei finanzieren, niemand so viel Freiheit verlieren", fügt er an.

Antimuslimische Reflexe beurteilt der Autor als falsch. "Wie zynisch es ist, in allen Muslimen potenzielle Terroristen zu sehen, führen schon nur die Bilder von Beirut vor Augen: Weinende Frauen mit Kopftuch trauern um die 43 Toten vom letzten Donnerstag, die der Islamische Staat auf dem Gewissen hat." Ebenso falsch wäre es - so schreibt Feuz - aus Angst vor unerkannt einreisenden Terroristen nun die Flüchtlingspolitik radikal zu ändern - weil wir so anfangen würden, die Grundrechte kaputt zu machen.
 

"Berner Zeitung" - Adrian Zurbriggen, stv. Chefredaktor
"Wer die Toten von Paris gegen die Flüchtlinge auf der Balkanroute verwendet, handelt unmenschlich - und unredlich", schreibt Adrian Zurbriggen, stv. Chefredaktor der "Berner Zeitung" in einem Kommentar. Die meisten der aktuellen Flüchtlinge seien genau vor dem Terror geflohen, der nun Paris erschüttert habe. Trotzdem sei es legitim, wenn europäische Staaten ihre Grenzen schützten, in dem sie bestmöglich kontrollieren und registrieren, wer da nach Europa kommt. "Wie gross die grösstmögliche Sicherheit ist und was alles dafür getan werden muss - darüber wird in den nächsten Wochen und Monaten viel diskutiert und gestritten werden. Und natürlich wird auch die Frage nach dem Umgang mit dem aktuellen Flüchtlingsstrom Europa weiter umtreiben", schreibt Zurbriggen. Selbst wer anerkenne, dass die Menschen aus Syrien und dem Irak nicht ohne Not flüchten, müsse eingestehen, dass mit genügend Betten und Essen für alle Ankommenden die Sache nicht erledigt sei. "Wenn sich Einwanderer nicht minimal integrieren in die Gesellschaft ihrer neuen Heimat, drohen Parallelgesellschaften."

Laut Zurbriggen gilt es in der Debatte die "Balance zu halten". Wie könne der Westen seine freiheitlichen Werte schützen, ohne sie dabei komplett auszuhöhlen? Totale Sicherheit gebe es nur in totalitären Staaten. Das könne nicht das Ziel sein.
 

"Basler Zeitung" - Michael Bahnerth, Mitglied der Chefredaktion
"Die Schuldfrage ist obsolet geworden, die Zeit des Debattierens ebenso, weil jetzt Krieg herrscht, einer, bei dem die Opfer bewusst Zivilisten sind", schreibt Textchef Michael Bahnerth in einem Kommentar auf der Front. Es sei ein Krieg, den Europa und die USA annehmen müssten, wenn wir und unsere Werte überleben sollen. Es sei Zeit, aus der Lethargie des Gutgläubigen, Schöngeredeten und Ängstlichen aufzuwachen. "Das 'Love, Peace and Happiness' der offenen Grenzen war hübsch und etwas Selbstverliebtes, auf lange Sicht gesehen ist es fatal."
 

"Aargauer Zeitung" - Dagmar Heuberger, Ressortleiterin Ausland
"Ihr wichtigstes Ziel haben die IS-Mörder (noch) nicht erreicht: Dass die Menschen in der zivilisierten Welt aus Angst vor dem Terror ihren Lebensstil ändern. Deshalb werden sie weiter bomben, weiter töten. Darauf müssen wir uns einstellen", schreibt die Leiterin des Ressort Auslands, Dagmar Heuberger auf der Front der "Aargauer Zeitung". Es sei denn, es gelinge, den IS zu vernichten. Mit militärischen Mitteln sei das freilich nicht zu erreichen. Denn die Wurzeln des Terrors in der islamischen Welt würden im Zusammenbruch der staatlichen Strukturen liegen.

Syrien, Libyen und Jemen seien heute 'failed states', gescheiterte Staaten, in denen der Islamismus gedeihe. Namentlich im Irak, in Libyen, aber auch in Afghanistan seien die militärischen Interventionen des Westens dafür mitverantwortlich. Deshalb scheue der Westen davor zurück, den IS mit Bodentruppen zu bekämpfen. "Es ist ein Teufelskreis: Greift man militärisch ein, gibt man den islamistischen Terroristen neue Nahrung. Der Westen ist in diesem Teufelskreis gefangen."
 

"Der Landbote" - Chefredaktor Benjamin Geiger
"Die Schweiz ist nicht neutral in diesem westlichen Krieg gegen den IS-Terrorismus", schreibt "Landbote"-Chefredaktor Benjamn Geiger in einem Leitartikel auf der Front. Ein eigenes militärisches Engagement stehe zwar ausser Diskussion, aber es sei nicht angebracht, den Kampf, den die westlichen Alliierten im Nahen Osten führten, aus einer selbstgerecht-kritischen Warte zu beurteilen. Die Vertreibung des IS aus Syrien und Irak allein werde dem Nahen Osten keinen stabilen Frieden bringen. Die anschliessende Versöhnung und der Wiederaufbau der von Bürgerkriegen gebeutelten Staaten müsse auch Teil des Kriegs gegen den Terror sein.

Dabei nimmt Geiger die Schweiz in die Pflicht: "Sie habe die finanziellen Möglichkeiten und die diplomatischen Erfahrungen dazu. Sie muss sich viel stärker als heute – und vor allem unabhängig eigener wirtschaftlicher Interessen – in diesen Prozess einbringen." Auch im Innern müsse die Schweiz aktiver werden. Sollte die Polizei tatsächlich nicht über ausreichend Mittel zur Erfüllung ihres Sicherheitsauftrags verfügen, wie verschiedentlich moniert wird, seien Korrekturen zu diskutieren. Geiger fügt an: "Es darf nicht sein, dass der IS ­beispielsweise im Rahmen eines Boxtrainings in Winterthur Gefolgsleute anwerben kann. Organisationen und Personen, die den Jihad propagieren oder mit ihm sympathisieren, dürfen nicht länger unter dem Schutz der Meinungsfreiheit stehen. Sie sind Gehilfen des Terrors und müssen als solche behandelt werden.


Westschweizer Zeitungen
Für "24 Heures" hat die "Stunde der Wahl geschlagen". Ist Europa bereit "gewisse Freiheiten zu opfern, um nicht nur unseren Lebensstil, sondern auch - einfacher noch - unsere Sicherheit zu wahren? (...) Sind wir bereit, einen dauerhaften Ausnahmezustand zu akzeptieren, eine Sicherheitsstrategie, die uns ständig begleitet?" Die "Liberté" mahnt, den Feind nicht zu verwechseln: "Der Feind sind der Islamische Staat, die Islamisten und nicht der Islam." Der "Matin" stösst ins selbe Horn: Erinnern wir uns, dass der Islam und der Extremismus keine Synonyme sind". Zugleich dürften wir uns in unserer Schweizer Seifenblase nicht unverwundbar wähnen. Die "Tribune de Genève" ist der Meinung, dass es "an der Zeit ist, dass die muslimischen Führungsleute und alle Muslime mit den religiösen Extremisten brechen - ohne Doppeldeutigkeit". Es genüge nicht, die Attentate zu verurteilen, es brauche Massnahmen in ihren Gemeinschaften, um Terroristen ausfindig zu machen und sie zu denunzieren. Zugleich fordert die Genfer Zeitung, die Finanzen für den Nachrichtendienst aufzustocken. "Im Namen der Freiheit haben unsere Demokratien keine andere Wahl als gewissen Freiheiten einzuschränken, ohne dass wir uns aber den Extremisten in unseren Reihen beugen." (wid/sda)

 


Kommentar wird gesendet...

KOMMENTARE

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren