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Zwei Namen für einen Niedergang

René Zeyer

 

Wenn man das Elend, in dem sich die meisten Newsmedien befinden, auf zwei Begriffe runterbrechen will, ist der erste "Leserreporter". Wer ihn verwendet, dem fällt offenbar nicht auf, dass es sich um ein wunderbares Beispiel für eine "contradictio in adiecto" handelt. Für alle Nichtlateiner unter den Content-Providern: ein Widerspruch in sich. Also wie ein quadratischer Kreis oder ein schwarzer Schimmel. Ein Leser ist einer, der was liest, ein Reporter war mal einer, der nach gewissen journalistischen Prinzipien rapportiert. Da bekanntlich die Welt nicht auf ein paar Blatt Papier und auch nicht auf einer noch so umfangreichen News-Webseite Platz hat, besteht die Aufgabe des Journalisten oder Reporters nicht zuletzt darin, zu filtern. Zu gewichten. Auszuwählen und einzuordnen.

Sicherlich sind da Hinweise von Lesern gelegentlich zweckdienlich, um auf ein Ereignis aufmerksam zu machen, das einer vertieften journalistischen Untersuchung wert ist. Absurd wird das aber, wenn der Leser zum Reporter ernannt wird, sich selbst lesen kann oder sich mit einem selbstgeknipsten Bild bespasst. Nun ist es leider tatsächlich so, dass sich die journalistische Qualität der Tätigkeit von "Leserreportern" allzu oft nicht wesentlich von den Leistungen von Journalisten oder Reportern unterscheidet, die höchstens über mehr Gelenkigkeit in einer Google-Suche oder die Fähigkeit zum Kunstgriff verfügen, zu einem beliebigen Thema auch noch einen "Experten" zu befragen. Neben dem Zugriff auf abonnierte Agenturen wie sda, dpa oder AP, deren zugelieferte Artikel noch etwas zurechtgeschnitzt und als vermeintliche Eigenleistung ins Blatt gehoben werden.

Der zweite Begriff ist "Kommentarfunktion". Während es früher noch, zugegeben meist als Gnadenbrot, die Position des "Leserbriefredaktors" gab, der die eingegangenen Zuschriften sichtete, Anonymes gleich in den Papierkorb schmiss, orthografisch oder inhaltlich Minderwertiges aussonderte und auch darauf achtete, dass sich die Leserbriefseite nicht in eine Kloake verwandelte, deren Gestank unangenehm in den Rest des Medienorgans rüberwaberte, kann heutzutage jeder, der in der Lage ist, unter Pseudonym ein Gratis-E-Mail-Konto zu eröffnen, nahezu ungehemmt die Multiplikatorplattform benützen, die ihm der digitale Auftritt der meisten Presseorgane freiwillig und umsonst zur Verfügung stellt.

Handelsüblich ist höchstens ein gewisser Filter, meistens ausgesourct, wo sich ein paar Studenten ein Zubrot verdienen, indem sie juristisch Heikles, Krankes und gegen weit, sehr weit gefasste Regeln von Anstand Verstossendes rauskübeln. Meistens unterstützt von einfachen Algorithmen, die auf Ausdrücke wie "Arschloch", "Judensau", "dumme Schwarze", "Faschist" und Ähnliches reagieren. Das läuft unter Leser-Blatt-Bindung, gerne auch unter "Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung". Aber was kann man von Medienorganen auch anderes erwarten, die bis heute nicht in der Lage sind, eine überzeugende Antwort auf die einfache Frage zu geben: Wie kann man im Print etwas verkaufen wollen, was man im Internet gratis anbietet? Ausser vielleicht: Na, dann machen wir Print doch auch gratis.

Der Leser, der sich öffentlich äussern will, darum weiss, dass der selbstgebastelte Blog doch wohl nur eine überschaubare Einschaltquote hat, bekommt hier gratis die Möglichkeit geboten, einen Lautsprecher, einen Multiplikator zu benützen. Eigentlich müsste er dafür, wie für jede Dienstleistung, etwas bezahlen. Was aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht der Fall ist. Nicht zu sprechen vom fehlenden Schutz des Autors derart kommentierter Artikel. Wer, wie ich, schon einige Shitstorms hinter sich hat, weiss, wovon er redet.

Als Sahnehäubchen kommt da noch hinzu, dass selbst seriöse mediale Plattformen nach gelegentlicher Gegenwehr einen einwandfrei persönlichkeitsverletzenden Kommentar zu löschen bereit sind, der "bedauerlicherweise" durch die grobmaschigen Filter durchgerutscht ist. Aber beispielsweise die IP-Adresse des Übeltäters rücken sie, unter Verweis auf den Datenschutz, nicht heraus.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich viele Presseorgane mit einem Vierfachschlag selbst überflüssig machen. Durch Schleichwerbung wie "Branded Content" oder "Native Advertising" verspielen sie ihre Glaubwürdigkeit. Durch das Runtersparen von Redaktionen zu "Verrichtungsboxen" (Imhof selig sei dieser Begriff verdankt), verlieren sie Kompetenz und Relevanz. Durch die Verwendung von "Leserreportern" führen sie das einstmals angesehene Handwerk eines Reporters ad absurdum. Und durch die Kommentarspalte im Internet haben sie die Klotüre sperrangelweit geöffnet, womit jedermann Zeitgenossen beim öffentlichen Verrichten der Notdurft zuschauen kann.

Nun ist Journalismus, die berühmte und wichtige "vierte Gewalt" im funktionierenden Gemeinwesen, etwas wichtiger als die untergegangene Schweizer Textil- oder Maschinenindustrie. Die zudem rechtzeitig neue, nachhaltige Geschäftsmodelle entwickelt hat, was ihr in Teilen das auskömmliche Überleben garantiert. Die versammelten Schweizer Verlagshäuser sind dazu offensichtlich nicht in der Lage.

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