06.04.2016

Thomas Haemmerli

Über die Sexplattform der VBZ

Rund vier Jahre lang wagten die Verkehrsbetriebe Zürich ein Abenteuer in Sachen digitaler Kommunikation. Westnetz.ch war ein Marketing-Instrument und gleichzeitig ein Versuchslabor. Selbstverständlich ist das nicht.

Die heimische Medienbranche, die die Umwälzungen der digitalen Revolution vor allem als Zumutung wahrnimmt, ist geprägt von Angst, Kleinlichkeit und dem Ideenvakuum eines Tagesgeschäfts, das mehr dem Hamsterrad als Dr. Oetkers Kochstudio gleicht.

Schlagartig klar wurde das, als sich bei Westnetz.ch eine Absolventin der Ringier-Journalistenschule – früher ein Garant für aussichtsreiche Medienkarrieren – als Praktikantin bewarb. Erst dachten wir: Die spinnt. Aber statt im Newsroom bloss gehetzt Gefässe abfüllen, wollte die talentierte junge Frau auch einmal eine Reportage schreiben und in einem Zukunftsmedium wirken. Und mit dem Digitalen tat und tut sich Ringier ja eher schwer.

Noch 2012 deklarierte Ringier-Chef Walder, man müsse sich ein Beispiel an den USA nehmen und Bezahlschranken einführen. Bei Westnetz.ch, das praktisch nur Digital Natives beschäftigte, dachten wir: Na dann: farewell! Ein Jahr später verkündete Walder brandneue News aus den USA: Bezahlschranke passé. Fünf Punkte würden für die Digitalisierung gelten: 1. Mobile Geräte bedienen. 2. Bewerbung der Inhalte über soziale Medien. 3. Auf Video setzen. 4. Neue Werbeformen, weil Werbebanner tot sind. 5. In Technologie investieren.

Das hörten wir bei uns gerne. Zwar konnte sich ein staatliches Unternehmen wie die VBZ nicht erlauben, bei der Werbung zu wildern. Aber immerhin war es gelungen, in dem Quartier, das wir bespielten, gegen vierhundert Unternehmungen und Organisationen mit ihrem Auftritt, auf der Seite zu haben. Einzelne, wie das Kino Riffraff, begriffen wie digitale Werbung funktioniert und veröffentlichten fleissig Beiträge über Premieren und ihre Filme. Als ein Medium, das kaum Marketing in eigener Sache machen konnte, war bei Westnetz.ch die Verbreitung der Inhalte über Facebook, Twitter, Google+ etc. pp. selbstverständlich, und das verhalf uns zu erstklassigen Suchmaschinenpositionen.

Und wenn es etwas gibt, wo Westnetz.ch wirklich ein Pionier war, dann im Einsatz von – Forderung Nummer drei – Video. Einem Medium, das in den grossen Medienhäusern nach wie vor eine Mauerblümchenexistenz fristet. Wir machten aus der Not, da es für Video kein Budget gab, eine Tugend. Alles wurde mit Konsumentenmaterial gedreht, man lieh sich hier ein Mikrophon, da eine Kamera und lotete die Möglichkeiten von Smartphones aus.

Kurzum, wir praktizierten während drei Jahren das, was man in den Verlagen gerne fordert. Daneben war Westnetz.ch auch ein Testgelände für Unternehmenskommunkation unter digitalen Bedingungen. Die VBZ liessen sich darauf ein, sich auf der eigenen Seite heftig kritisieren zu lassen, und fuhren gut mit Kommunikationsmassnahmen, die dialogisch und direkt funktionieren, derweil klassische Medien als Mittler aussen vor blieben.

Wir sind uns sicher, bei Westnetz.ch haben wir einiges von dem ausgeschöpft, was kontemporäre Technologie ermöglicht und erfordert. Das gilt auch für das Buch: Da die Buch-Produktion kaum mehr etwas kostet, fassen wir fröhlich Posts, Highlights, Analysen und Artikel über uns in einem Band zusammen.

Wir tun das, weil das eine gute Momentaufnahme eines dynamischen Quartiers ergibt. Wir tun das, weil sich daraus einige Lehren ziehen lassen für ähnliche Projekte und für den digitalen Wandel bei den Medien. Wir tun das, weil es eine Flaschenpost ist, denn bald wird der Fortschritt vieles überholt haben und aus der Zukunft wird unser heute komisch und historisch wirken.

Chefblogger Thomas Haemmerli


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