28.06.2015

Cannes Lions 2015

"Zehn Löwen sind ambitioniert, aber realistisch"

Sieben Löwen, zwei davon in Gold: Mit dieser Ausbeute reiste die Schweizer Cannes-Delegation am Wochenende nach Hause. Was bedeutet das für unser Land als Kreativstandort? Gegenüber persoenlich.com kritisiert ADC-Präsident Frank Bodin nicht nur die Werbeagenturen, sondern auch die Auftraggeber. Sie seien mitverantwortlich, wenn die Schweizer Kreativen international nicht mehr mithalten können.
Cannes Lions 2015: "Zehn Löwen sind ambitioniert, aber realistisch"

Herr Bodin, sieben Löwen für die Schweiz: Welche Bilanz zieht der ADC nach Cannes-Lions 2015?
Bilanzen muss man lesen können. Auf den ersten Blick sind sieben Löwen eine gute. Zweimal Gold, zweimal Silber und zweimal Bronze für das mit Blut von HIV-positiven Menschen gedruckte Magazin "Vangardist" von Saatchi & Saatchi Genf ist ein unerwartetes und wunderbares Geschenk für die Schweiz, un grand merci! Die Bronze für Eper (HEKS) von M&C Saatchi in der Kategorie Radio ist ein brillant einfacher Hinhörer, bravo!

Zudem gewannen die Schweizer Young Lions Gold.
Ja, das ist besondere Freude. Die Arbeit von Dominique Malania Magnusson und Kevin Zysset bei den "Young Lions Cyber" ist eine digitale Weltklasseidee, die zu einer historischen Goldmedaille in diesem Nachwuchswettbewerb führte. Dazu bleiben noch zwei Hände voll Shortlist-Platzierungen für FCB Zürich, Publicis, Leo Burnett, Freundliche Grüsse, Stories, Walker und Havas Worldwide Zürich sowie einmal Bronze für Neuroth bei den Lions Health, der aber nicht zum Wettbewerb zählt.

Nun das "Aber".
Genau. Eigentlich sind nur zwei Arbeiten aus der Schweiz mit insgesamt sieben Löwen ausgezeichnet worden. Das ambitionierte, aber realistische Ziel müssten mehr sein und ein Platz in den Top-20 im Länder-Ranking.

Warum müsste die Schweiz mehr als sieben Löwen erhalten?
Hier helfen einige Kennzahlen: 2014 gewannen die USA 214 Löwen, Brasilien 107, UK 104. Deutschland belegte mit 43 Löwen (ein schlechtes Jahr) Platz 8, Österreich gewann 11 Löwen und die Schweiz 6. 2015 sind über 40'00 Einreichungen aus über 90 Ländern zu verzeichnen, wobei sich etwa 50 Nationen über mindestens einen von rund 1'200 Löwen freuen können - das macht eine Gewinn-Ratio von rund 3 Prozent. Die Schweiz erjagte dieses Jahr mit etwa 500 Einreichungen 7 Löwen; bei einer Gewinn-Ratio von 3 Prozent müssten es 15 Löwen sein. Was zeigt, dass einige Schweizer Agenturen offensichtlich ihre Arbeiten nicht richtig einschätzen können. 

Auch der ADC selber lag daneben: Saatchi & Saatchi Genf hat mit der HIV-Arbeit ja keinen Würfel erhalten.
Nein, denn die Arbeit wurde leider nicht beim ADC Schweiz eingereicht.

Was bedeutet diese Cannes-Ausbeute für die Schweiz als Kreativ-Standort? 
Die Schweiz ist im weltweiten Innovations-Ranking ganz vorne dabei. In unzähligen Bereichen darf sich unser Land zu den Besten zählen. Schaut man sich an, mit wie wenigen Ressourcen die besten Agenturen hierzulande Schritt mit den grossen Agenturen in den grossen Ländern halten, ist das bemerkenswert. Fast jedes Jahr ist die Schweiz mit einer Weltklassearbeit vertreten und die Top-10-Agenturen im Schweizer Kreativranking erarbeiten sich ziemlich regelmässig Chancen auf Löwen.

Wo liegt das Problem?
Wenn Schweizer Agenturen aber nicht die Chance erhalten, mehr der bedeutenden globalen Budgets zu führen, von denen hier ansässige Unternehmen ja einige zu vergeben haben, dann werden sie ausgehungert. Die Aufträge, die ins Ausland gehen, werden dann von anderen gemacht. Und die Löwen auch. 

Die Westschweizer Agenturen waren dieses Jahr aussergewöhnlich erfolgreich. Warum? 
Mit einer elektrisierenden Arbeit hatte die Westschweizer Agentur "Headfun" in der Kategorie Design beim ADC Schweiz dieses Jahr Gold gewonnen. Aber es wäre zu einfach, wenn wir unseren französisch sprechenden Landesteil aufgrund der ADC- und Löwengewinne als neues kreatives Mekka feiern. Die Erfolge haben leider wenig mit der Realität in der Romandie zu tun. Saatchi & Saatchi verdankt ihren Sitz in Genf ihrer speziellen Historie; die Agentur betreut mit einer multinationalen Söldnertruppe vor allem die Novartis-Accounts Voltaren und Otrivin. Der Namensvetter M&C Saatchi ist eine andere, eigenständige Kreativboutique rund um Olivier Girard als Gründer und CD.

Sozusagen ein One-Hit-Wonder?
Die Kunst ist, aus diesen Erfolgen eine nachhaltige Kreativkultur zu machen, also jedes Jahr an Wettbewerben zu punkten. In der Westschweiz gibt es nur noch eine Handvoll richtiger Kreativagenturen, die über eine minimale Grösse und über das Knowhow verfügen, um komplexere Aufgabenstellungen strategisch und kreativ zu meistern. Wenn sich diese nicht in der Branche einbringen, beispielsweise im Ausbildungsbereich, und an die Qualitätstandards von leading swiss agencies halten würden, gäbe es bald keine ernstzunehmende Agentur mehr. 

Was muss man tun, damit die Bilanz nächstes Jahr für die Schweiz besser ausfallen kann? 
Ein ambitioniertes, aber realistisches Ziel sind jährlich 10 Löwen, die sich auf fünf bis sechs Agenturen verteilen. Drei Faktoren sind entscheidend, um dies zu erreichen: Erstens, Investition in Ausbildung und Talentförderung. Zweitens, "Multikultivierung" von Schweizer Agenturen. Drittens, Lobbying.

Können Sie diese drei Punkte ausführen?
Zu erstens: In Sachen Nachwuchsförderung hat der ADC Schweiz die Initiative ergriffen: Die erfolgreiche ADC/bsw-Kreativschule wird derzeit zur "Creative & Digital Academy" ausgebaut. Wichtig dabei ist, dass auch die Trägerschaft erweitert wird und nebst dem ADC und leading swiss agencies künftig beispielsweise auch die IAB, APGS sowie Hochschulen, Universitäten und wichtige Unternehmen Zeit und Geld in ihre Zukunft investieren. Der rasante technologische Wandel macht permanente Aus- und Weiterbildung zu einem Muss: Search, Video Content, Programmatic, Mobile, Social-Media-Formate, digital Planning usw. Wenn wir nicht laufend auf dem neuesten Stand sind, verlieren wir die strategische und kreative Hoheit. Das hat Cannes dieses Jahr eindrücklich vor Augen geführt. Ich wundere mich, wie präsent Google, Facebook, Twitter & Co. in Cannes sind und den Dialog suchen, aber nur noch wenige TV-Netzwerke und Verlage.

Und zweitens?
Hiesige Agenturen müssen künftig noch viel mehr über den Schweizer Tellerrand hinausschauen. Internationale Talente, Wissensaustausch, Diversifikation sind notwendige Investitionen, um an der Weltspitze mitzuhalten. Vieles ist zwar gut gemacht, aber zu klein gedacht. Zu Drittens: Multinationale in der Schweiz ansässige Konzerne sind gut beraten, hiesigen Agenturen vermehrt eine Chance zu geben, damit diese dann auch die entsprechenden Ressourcen aufbauen können.

Und was tut der ADC?
Mit dem Magazin "Creativity Swiss Made", das auch am Cannes Festival präsent war, machen wir Werbung für den Kreativstandort Schweiz, bei den Auftraggebern, in Hochschulen und Universitäten, um die besten Köpfe zu erhalten, bei den Jurys in Cannes und anderswo. Wenn wir jährlich zehn oder mehr Löwen in die Schweiz bringen wollen, müssen wir bedeutend mehr dafür tun. Übrigens symbolisch für den Wandel in unserer Branche und in Cannes war der Streik der Taxifahrer am Freitag in Frankreich wegen und gegen Uber - mit dem Effekt, dass Uber dadurch noch mehr und neue Kundinnen und Kunden erhielt.

Fragen: Edith Hollenstein


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