22.10.2022

Filmserie

Dieser Stummfilm gäbe heute einen Aufschrei

Ein bisschen Woke-Alarm, eine Menge Klischees und eine Liebesgeschichte: «Die Macht der Arbeit», ein Stummfilmdrama von 1925, vom Heute aus betrachtet.
Filmserie: Dieser Stummfilm gäbe heute einen Aufschrei
André Carel, Spross einer wohlhabenden Pariser Familie, fährt zur Erholung an die Waadtländer Riviera. Bei einer Bootsfahrt verliebt er sich in die schöne Reine Lugrin, Tochter eines Steinbruchmeisters aus Meillerie. (Bild: Screenshot)

Am Schluss, als es richtig brenzlig wird, nimmt die Frau die Zügel – oder in diesem Falle: die Ruder – in die Hand, und alles wird gut. Und trotzdem ist «Die Macht der Arbeit» eher das Gegenteil einer feministischen Geschichte. Aber von Anfang an.

Das französisch-schweizerische Stummfilmdrama, uraufgeführt 1925 in Genf, lautet in der Originalversion «La Vocation d'André Carel» (Die Berufung des André Carel). Der Film behandelt nebst Andrés wörtlich zu nehmenden Suche nach dem erfüllenden Job zwei, drei grosse Themen, ist aber dennoch schnell erzählt: Titelfigur André Carel, Sohn eines berühmten Pariser Schriftstellers, wird zwecks Genesung (er ist sportverrückt statt intellektuell) an den Genfersee geschickt. Begleitet wird er von seinem langjährigen Hauslehrer, der vom Vater instruiert worden war: «Er braucht Erholung, Ruhe, und vor allem strikte Überwachung.»

Selbstverständlich gehen alle drei Punkte in die Hose (auf die wir noch zu sprechen kommen). André haut ab, lernt die Tochter eines Schiffers kennen, verliebt sich, heuert als einfacher Arbeiter an, wird angefeindet.

So weit die Storyline. Michel Simon als Hauslehrer Gaston Lebeau sollte später recht bekannt und 1995 auf einer 60-Rappen-Briefmarke verewigt werden – mit nicht sichtbarer Oberlippe, Mireille-Mathieu-Frisur und einigermassen verkniffenem Lehrergesicht. Dass Lebau auch an Figuren von Viktor Giaccobo aka Debbie Mötteli und Harry Hasler erinnert, ist dem Late-Night-Show-verdorbenen Geist der späten Nullerjahre zuzuschreiben.

Übergriffiger geht es kaum

Dass man sich den Film heute überhaupt anschauen kann, ist Cinémathèque Suisse zu verdanken. Anfang dieses Jahrhunderts wurde dieser nämlich, fleckig und verkratzt wie er war, zusammengeflickt. Und so zuckt man rund hundert Jahre später erst mal zusammen, als der Hauslehrer auf Deck eines Kursschiffes ziemlich lange durchs Fernrohr guckt – auf Frauenbeine. Es sind jene von Reine Lugrin.

Auch André Carel bleibt an ihr hängen, als er den Feldstecher überreicht bekommt (süffisantes Lächeln von Seiten des Hauslehrers), aber es sind nicht die Beine, die ihn interessieren, sondern ihr Gesicht. Aufatmen? Naja. Zuerst schaut er wie ein kranker Spanner durch das Fernglas, dann setzt er sich neben sie. Übergriffiger geht es kaum, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Tochter des Schiffers schläft – und von alledem nichts merkt. Und auch nicht flüchten könnte – man befindet sich ja auf hohem Genfersee.

Kurze Zeit später, wieder an Land, serviert die Ahnungslose (sie wird immer noch beobachtet!) ihrem Vater und dessen Arbeitern Picknick, lächelnd, spassend, unterwürfig. Was die Szene irgendwie erträglich macht: Die Männer scheinen sich zu bedanken, die Tochter hat wahnsinnig Freude an allem und kann sich offensichtlich viel Zeit nehmen. Frauen kommen übrigens ausser besagten Reine und Thérèse Lugrin (die während des gesamten Films sehr besorgte Mutter) keine vor. Aber es geht ja um Monsieur Carel. 

Dieser greift alsdann zu einer List. Der Mann aus gutem Hause gibt sich als Handwerker aus, um näher bei Reine zu sein. Konkret: Um sie sich zu schnappen, zu ehelichen, nie mehr loszulassen. Dergleichen steht auf seinem Gesicht geschrieben, als er sie zum ersten Mal erblickt (erspannert). Eine Sehnsucht, wie sie nur ein irre Verliebter aufbringen kann, ist fortan in seinen Gesichtszügen eingegraben, warum er sich so sicher ist, dass die Auserwählte auch wirklich etwas für ihn ist, bleibt unklar. 

Carel kleidet sich also wie ein Schiffer und lässt sich von Monsieur Lugnin anstellen. So clever! Und so was von cultural appropriation! Das reiche Vatersöhnchen gibt sich als armer Schlucker aus, im Sepia-Licht ist nicht auszumachen, ob er sich noch ein wenig Dreck ins auf seine edle Nase geschmiert hat, es ist aber anzunehmen. Schöner könnte kulturelle Aneignung nicht vorgeführt werden. 

Was nun?

Natürlich, man kann jetzt sofort ein paar Posts absetzen, #woke und so. Nach noch mehr Klischees suchen, Erziehungsmethoden bemängeln oder sich fragen, warum die Frau (!) den Kahn der verliebten Täubchen auf dem See in Bewegung halten muss (Reine rudert, André sitzt ihr gegenüber und palavert). Sich enervieren, dass Regisseur und Drehbuchautor Jean Choux wahnsinnig dick aufträgt mit der Fischerdorfromantik und heilem Familienleben (der Lugrins). 

Oder man kann sich auch einfach erfreuen. An Andrés Hosen, die aussehen, als ob sie eine Hipster-Schneiderin für Instagram genäht hätte. An überhaupt allen - aus heutiger Sicht - Designperlen, das geht von den Hotel-Intérieurs bis über die schicken Hüte und schönen Kleider der Reichen und Armen (Stichwort: Reines Karo-Kleid). An der Tatsache, dass Männer im Jahr 1925 keine Probleme damit haben, ihre Gefühle offenherzig zeigen, es fliessen Tränen, es gibt eine Menge Hundeblicke und ausserdem Halluzinationen, hervorgerufen durch Eifersucht, die deutlich erkennbar auf dem Gesicht von Andrés Widersacher auszumachen ist. 

Vor allem aber macht es Spass, wenn eintrifft, was man längst weiss (es ist ein bisschen wie bei Rosamunde Pilcher): Reine und André verlieben sich. Es passieren dann noch eine Reihe harmlose und auch eine schlimme Sache, doch grundsätzlich ist von Anfang an klar, wie der Hase läuft. Oder schlendert: In diesem Film dauert alles sehr, sehr lange (ausser das Verfallen des André Carel in die Reine Lugrin). Untertitel werden spärlich und manchmal nicht ganz sinnstiftend eingesetzt, und das ist gut so. Die Spannung wird gerade durch diese Langsamkeit aufrecht erhalten (im Gegensatz zu Pilcher-TV-Filmen). 

Und am Ende? Ist nicht nur der See aufgewühlt, sondern auch alle Beteiligten. Doch irgendwann heisst es: «Man erklärt sich. Man versteht sich.» (sda/cbe)



Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. 

Das ist der dritte Teil einer losen Serie über ältere Schweizer Filme.



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